Menü

Warum in der Kirche bleiben?

30.05.2022

Die Enthüllungen von Missbrauch und Vertuschung haben viele Katholik*innen so sehr erschüttert, dass sie ihrer Kirche den Rücken kehren. Oder sie entscheiden sich gerade jetzt fürs Bleiben, weil sie etwas verändern möchten. Eine Suche nach Antworten und einem gangbaren Weg.

Die Bilanz ist erschreckend: Bundesweit verliert die Kirche ihre Mitglieder derzeit im Rekordtempo. Vielerorts gibt es Wartezeiten für einen Austrittstermin. Laut Deutscher Bischofskonferenz gehören etwa 22,2 Millionen Menschen in Deutschland der katholischen Kirche an. Allein im Jahr 2020 sind 221390 gegangen. Die Zahlen für das erste Quartal 2022 lassen erahnen, dass es dieses Jahr noch mehr werden. Der Abschied geschieht nicht über Nacht, Entfremdung geht ihm voraus. Es ist ein Prozess. In einer großen Studie über Kirchenaustritte hat das Bistum Essen untersucht, warum die Menschen ihrer Kirche den Rücken kehren. Bis zu 5 000 Gläubige pro Jahr waren es in dem Bistum schon bis 2018. Die Essener Studie zeigt: Eine lange Phase der Entfremdung und eine fehlende emotionale Bindung sind den meisten Austretenden gemeinsam. Zu den am häufigsten genannten Gründen für einen Austritt zählen eine nicht mehr zeitgemäße Haltung der Kirche im Bereich der Sexualmoral, das Frauenbild der Kirche, ihre Positionen zu wiederverheirateten Geschiedenen und dem Zölibat. Kurz: Die Menschen finden sich mit ihrer Lebenswirklichkeit nicht mehr wieder in der Kirche.
Doch mit dem Missbrauchsskandal bekam die Austrittswelle eine neue Dynamik. Als unerträglich wurde zuletzt die Vertuschung der Aufklärung in der Diözese Köln wahrgenommen, ebenso das Münchner Missbrauchsgutachten. Dieses belastet hochrangige Kirchenvertreter bis hin zu Papst Benedikt XVI. „Seitdem hat sich nochmal grundlegend etwas verändert“, stellt Thomas Rünker von der Kommunikationsabteilung des Bistums Essen fest. Er hat 2018 die Essener Studie zu Kirchenaustritten mitherausgegeben. Die Skandale haben das Vertrauen der Menschen in die Kirche nachhaltig erschüttert. Für viele waren sie der Auslöser für den endgültigen Bruch. Es gehen nun auch andere. Nicht mehr nur diejenigen, die schon lange nichts mehr mit der Kirche zu tun hatten und lediglich zahlende Mitglieder waren, nein, nun gehen bisher Engagierte, die regelmäßig kamen, die in Pfarrgemeinderäten oder anderen Gruppen mitarbeiteten und Gemeinden lebendig hielten. „Wenn Pfarrer nun die Listen mit den Namen derer bekommen, die ausgetreten sind, dann haben sie immer wieder auch konkrete Gesichter zu den Namen vor Augen“, sagt Rünker.

Ausgetreten, aber immer noch katholisch

Auch für die Stuttgarterin Barbara Schwarz-Sterra war mit dem Missbrauchsskandal das Maß endgültig voll. Sie entschied sich, aus der Kirche auszutreten. Und das, obwohl es für sie von klein auf selbstverständlich war, katholisch zu sein. „Meine Familie hat jeden Sonntag eine Bank in der Kirche gefüllt“, erzählt die Politologin über ihre Kindheit. Fast drei Jahrzehnte lang hat Schwarz-Sterra mit großem Elan den Fachbereich „Frauen“ im Bistum Rottenburg-Stuttgart geleitet und sich im Vorstand der Arbeitsstelle der Frauenseelsorge auf Bundesebene engagiert. „Die Frage nach der Gerechtigkeit ist mir sozusagen in die Wiege gelegt worden. Ich habe schon als Mädchen verglichen, was dürfen meine drei Brüder, was dürfen meine Schwestern und ich, und habe mich daran gerieben, wenn es auseinanderklaffte“, erzählt sie. Neben der Frauenspiritualität spielte in ihrem Arbeitsbereich die Teilhabe von Frauen in Kirche und Gesellschaft eine große Rolle. Ein vielfältiges Themenangebot regte Frauen zur Reflexion ihrer Stellung in der Gesellschaft an. Durch Netzwerke bot der Fachbereich Unterstützung, über den eigenen Tellerrand zu schauen. „Nach dem Ökumenischen Kongress 1997 mit dem Titel ,Frauen gestalten Kirche’ war in allen relevanten Bereichen klar, was Frauen von den Bischöfen erwarteten“, unterstreicht sie. Der Widerstand gegen die Anliegen war ihr tägliches Brot. „Es ist alles gesagt. Klar ist, was Frauen in der Kirche möchten und können, und zwar schon lange. Strukturell hat sich aber in all den Jahren wenig verändert“, lautet ihr Resümee. Dazu kamen Aussagen aus Rom, die wenig hilfreich waren. Dann folgte der Missbrauchsskandal: „Er hat nochmal deutlich gemacht, welche Spielarten des strukturellen Ausschlusses im System Kirche herrschen: Nämlich unterschiedliche Formen von Gewalt und Missbrauch. Das ist für viele Menschen inakzeptabel. So auch für mich. Die Kirche hat ihre traditionelle Rolle als Wertewahrerin damit in Teilen verloren. Obwohl wir heute in dieser schwierigen Situation mehr denn je eine Kirche des Verstehens bräuchten. Dafür stimmen leider die Voraussetzungen nicht mehr“, sagt sie.
Barbara Schwarz-Sterra hat zwar der Kirche den Rücken gekehrt, doch ihren Glauben lebt sie weiter. Dass ihr das ein grundlegendes Bedürfnis ist, hat ihr gerade die Corona-Zeit vor Augen geführt, in der Gottesdienstbesuche seltener waren. „Ich habe gespürt, was das mit mir macht, und es hinterlässt eine Leere. Spiritualität braucht Raum und Gemeinschaft.“ Bewusst sucht sie für Stille und Meditation Klöster und Kirchen auf. Aber sie nimmt auch an Gottesdiensten teil – nicht nur an katholischen. „Ich lebe in der Stadt, da kann ich mir aussuchen, wohin ich gehe“, erklärt sie und fasst zusammen: „Ich bin als Getaufte immer noch katholisch. Aber ich bin nicht mehr Teil dieses strukturellen Systems Kirche.“ Ihr Umfeld habe überrascht reagiert, aber auch mit großem Verständnis für ihre Entscheidung.

Kirche ein einladendes Gesicht geben

Kirche hat eine starke Botschaft zu verkünden. Das ist ihre ureigenste Aufgabe. Die Frage ist, wie ihr das gelingen kann, wenn sie sich selbst im Weg steht. Nur ein kleiner Prozentsatz der Katholik*innen besucht regelmäßig den Gottesdienst. „Unsere Kirchengemeinden neigen dazu, auf die Menschen zu schauen, die in der Gemeinde aktiv sind. Aber es ist darüber hinaus wichtig, diejenigen in den Blick zu nehmen, die mit ihrer Steuer zwar die Kirche finanzieren, aber oft jahrelang keinen Kontakt zu ihr haben. Hier lohnt es sich für Gemeinden zu fragen: Was brauchen diese Menschen?“, betont Thomas Rünker vom Bistum Essen. Dass mindestens zweimal im Jahr ein einladender Pfarrbrief in allen Briefkästen der katholischen Gemeindemitglieder landet, hält er für ein absolutes Minimum, um regelmäßig in Kontakt zu sein. Im Bistum Essen erhalten außerdem alle katholischen Haushalte das Mitgliedermagazin Bene. „Damit wollen wir signalisieren: Schön, dass ihr dabei seid! Es gibt viele Themen, über die wir reden können“, sagt Rünker.
Denn es finden sich durchaus Lebensthemen, bei denen eher kirchenferne Menschen ansprechbar sind: „Zum Einschulungsgottesdienst und zum St.-Martins-Gottesdienst kommen auch Frauen und Männer, die nur noch wenig Kontakt zur Kirche haben. Das ist eine Riesenchance! Deshalb sollten sich hauptberufliche und ehrenamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger hier besonders große Mühe geben, die Gottesdienste so zu gestalten, dass sich die Menschen angesprochen fühlen. Im Fußball würde man sagen: Das ist ein Elfer, den man verwandeln muss. Ebenso kann eine einfühlsame katholische Beerdigung eine gute Werbung auch für andere kirchliche Angebote sein“, ist Thomas Rünker überzeugt.
Die Altersgruppe, die in Scharen austritt, – das zeigte die Essener Studie ebenfalls – sind die Mitte 20- bis Mitte 30-Jährigen. „Wir haben aber festgestellt, wenn Menschen bis zur Familiengründung mit Anfang 30 nicht ausgetreten sind, ist die Chance groß, dass sie bleiben. Die Perspektive auf Kirche verändert sich ganz offensichtlich durch Familie. Viele, die Kinder haben, möchten diese offenbar unter den Segen Gottes stellen, taufen und mit christlichen Werten aufwachsen lassen“, so Thomas Rünker.
Die Art und Weise, wie Kirche vielerorts mit gerade ausgetretenen Menschen in Kontakt tritt, hält er für deutlich verbesserungsfähig. „Wenn Sie ein Abo bei einem Telefonanbieter kündigen, wird man Sie freundlich fragen, was Sie zu diesem Schritt veranlasst hat, und versuchen, Ihnen ein möglichst attraktives Angebot zu machen, um Sie zurückzugewinnen. Wenn Sie aber aus der Kirche austreten, erhalten Sie bislang in vielen Gemeinden ein schwer verständliches Schreiben, in dem die rechtlichen Folgen aufgelistet sind: kein Tauf- und Firmpate mehr, in der Regel kein Empfang der Kommunion und kein kirchliches Begräbnis. Das klingt eher bedrohlich als nach offenen Türen und echtem Interesse, miteinander im Gespräch zu bleiben“, kritisiert er.
Das haben auch die Bischöfe registriert. Franz-Josef Bode, der zweite Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, hat angekündigt, dass das Musterschreiben für ausgetretene Katholik*innen überarbeitet werden soll: „Heute muss jeder Einzelfall differenziert betrachtet werden.“ Es gebe immer mehr Menschen, die lange mit der Kirche gelebt und jetzt das Vertrauen so verloren haben, dass sie keinen anderen Weg des Protests wüssten. Es gelte, in Kontakt zu bleiben, sagte der Bischof gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur.

Interview: Kirche und junge Menschen

  • Im Gespräch mit Jana Wulf vom BDKJ

    Fast ein Drittel der Katholik*innen sind laut BDKJ (Bund der Deutschen Katholischen Jugend) unter 30 Jahre alt. Jana Wulf vertritt die Anliegen von jungen Menschen in der Kirche. Als BDKJ-Diözesanvorsitzende im Erzbistum München und Freising weiß sie, wie Jugendliche für kirchliche Themen noch zu erreichen sind.

    Hat die Kirche Ihres Erachtens noch eine Zukunft bei jungen Menschen? Ich glaube daran, dass die Botschaft Jesu eine Zukunft hat. Ich weiß nicht, ob die katholische Kirche, so wie sie jetzt ist, eine Zukunft hat. Ich denke, dass sich viel verändern muss, damit sie Relevanz und Glaubwürdigkeit behält für junge Menschen.

    Was ist ganz oben auf der Agenda des Verändernwollens? Tatsächlich die Strukturen in der Kirche. Die Jugendverbände arbeiten sehr partizipativ und demokratisch. Gleichberechtigung ist ein wichtiges Thema, auch Reformen der Sexualmoral, gleichzeitig ein konsequentes Aufklären und Verhindern von sexualisierter Gewalt. Das Schlimmste wäre, wenn sich nichts verändern würde.

    Mit welchen Angeboten sind Jugendliche zu erreichen? Durch Gesprächsbereitschaft, Interesse an ihnen als Person und als Mensch. Auch die Förderung von Engagement und die Freiheit, sich im Ehrenamt ausprobieren zu dürfen, zum Beispiel ein Zeltlager organisieren zu dürfen in der Pfarrei, können Begeisterung wecken. Es ist ein großes Gut, wenn man jungen Menschen etwas zutraut.

    Was brauchen junge Menschen von der Kirche? Eine Kirche, die ihnen auf Augenhöhe begegnet, partnerschaftlich mit ihnen zusammenarbeitet und ihnen zuhört. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass Jugendliche häufig einfach einen Raum brauchen, in dem sie sein können und sich mit ihrer Spiritualität und ihren sonstigen Fragen des Lebens auseinandersetzen können. Der Bedarf, sich über spirituelle Momente auszutauschen, ist ungebrochen.

    Kommen die Anliegen Jugendlicher in der Kirche vor? Das kommt ganz darauf an, wo man hinschaut, und auf das Seelsorgeteam vor Ort. Aber der Fokus müsste noch stärker auf Themen Jugendlicher liegen. Junge Menschen sind die Zukunft. Wenn wir an ihnen sparen, brauchen wir manche Strukturen nicht mehr.

    Warum sind Sie noch in dieser Kirche dabei? Weil ich glaube, dass es neben den Menschen, die gehen, auch die Menschen braucht, die bleiben. Die zum einen nicht den fundamentalistischen Strömungen das Feld überlassen und zum anderen versuchen, von innen etwas zu verändern. Ich habe noch große Hoffnungen in den Synodalen Weg und möchte aktiv dazu beitragen, dass junge Menschen dort gehört werden.

Echtes Interesse am Gegenüber

Genau darum geht es Tom Apel aus dem Pfarrverband Hattingen im südlichen Ruhrgebiet. „Schlechte Nachrichten über die katholische Kirche gibt es schon genug. Wir wollen den Menschen eine Freude machen und ins Gespräch kommen, egal ob sie katholisch sind oder nicht“, sagt er. Wer in einer der Kirchen, die zum Pfarrverband gehören, aus dem Sonntagsgottesdienst kommt, den erwartet manchmal ein limettengrünes Gefährt vor der Kirche. Auch in der Fußgängerzone der Kleinstadt macht das Vehikel immer wieder Station. Die kleine Ape, ein dreirädriges, typisch italienisches Fahrzeug, hat dann das Verdeck weit aufgeklappt, zum Vorschein kommt eine glänzende Kaffeemaschine. Auf der Vorderseite kann man lesen: hattingen-katholisch.de Raus zu den Menschen wollen die etwa zehn Ehrenamtlichen gehen, die die Auftritte des Fahrzeugs begleiten. Der Kaffee wird kostenlos ausgeschenkt. Miteinander reden tut gut. „Wir können über Gott und die Welt sprechen, müssen wir aber nicht. Es kann auch einfach das Wetter sein“, erklärt Tom Apel. Niederschwellig zeigen, dass man an den Menschen interessiert ist und dass die Türen immer offen stehen. So kann es gehen. Apel, der als Werkpädagoge tätig ist, hat die Ape mit schulverweigernden Jugendlichen zum mobilen Café ausgebaut. Die sind jetzt mächtig stolz auf das Gefährt.
In Essen hat man nicht nur genau hingeschaut, wer warum aus der Kirche austritt. Man hat auch Zukunftsbilder für das Bistum entwickelt, die ein Ziel haben: Kirche lebendig sein lassen. Dazu gehören neben niederschwelligen Angeboten wie die katholische Ape auch ein gemeindeübergreifendes Trauteam, Ehrenamtliche, die beerdigen, und nichtgeweihte Seelsorgerinnen und Seelsorger, die taufen dürfen.

Auf der Suche nach dem Sinn

Nicht alle finden in ihrer Heimatgemeinde passende spirituelle Angebote.

Ortswechsel nach Kempten im Allgäu. Zwischen der Basilika und der Caritas – dem von vielen geschätzten sozialen Gesicht der Kirche – liegt das Café der Cityseelsorge. 40 Ehrenamtliche leben dort Gastfreundschaft, bewirten nicht nur, sondern haben ein offenes Ohr und viel Feingefühl für ihre Gäste. Jede*r ist willkommen, ob katholisch oder nicht. Wenn sich herausstellt, dass jemand tiefer ins Gespräch kommen möchte oder Unterstützung sucht, dann sitzt er nicht selten einige Zeit später Hannes Häntsch gegenüber. Der Religionspädagoge und Sozialarbeiter begleitet Menschen, die in schwierigen Lebenssituationen einen Ansprechpartner suchen. Cityseelsorge bedeutet für Häntsch, dass die Kirche nah an der Lebenswirklichkeit der Menschen ist: „Ich staune immer wieder, mit welcher Ernsthaftigkeit die Menschen auf der Suche nach einem Sinn in ihrem Leben sind. Zwei Drittel der Frauen und Männer, die den Weg zu uns finden, kommen von außerhalb unserer Pfarrei, weil sie diese Angebote suchen. Wir bieten in spiritueller Hinsicht etwas an, was Menschen in ihrer Heimatpfarrei und anderswo nicht finden.“ Andachten, Vorträge und Seminare im Themenspektrum Glaube und Sinn, Initiativen für benachteiligte Menschen und Gespräche an Wendepunkten im Leben bietet das Team an. Eine weitere Zielgruppe sind der Kirche eher Fernstehende, die auf der Suche sind. „Ich sehe in der Cityseelsorge ein großes Lernfeld für die Kirche, mehr darüber zu erfahren, wie es den Menschen geht und was sie brauchen. Wir versuchen, hinaus zu den Menschen zu gehen und uns gemeinsam mit ihnen auf die Suche nach Antworten auf ihre existenziellen Fragen zu machen. Kirche bleibt zu oft in ihren Räumen, das versuchen wir immer wieder aufzubrechen“, sagt Häntsch.
Die Menschen, die den Weg zu Hannes Häntsch und seinen Kolleg*innen finden, sind oft mit belastenden Lebensthemen wie Trauer oder Krankheit befasst. „Das sind Situationen, wo tiefer geschürft wird.“ Es sei dann eine starke Sehnsucht spürbar, in Berührung zu kommen mit der Einzigartigkeit der eigenen Person und deren sinngebendem Lebensentwurf. Sich den Fragen zu stellen, wozu bin ich da, was macht mein Leben aus? „Die Tradition des Glaubens hat eine lange Geschichte mit diesen Themen. Aber die Sprache dieser Tradition verstehen viele Menschen nicht mehr. Wir können eine Übersetzung ins Hier und Jetzt leisten. Den Erfahrungsschatz des Glaubens verknüpfen mit dem Erleben des Menschen. Es wird oft so verstanden, dass Glaube dieses Erleben minimiert, indem der Verstand ausgeschaltet werden muss. Aber im Gegenteil: Der Glaube erweitert das Leben. Die Dimension des Unsagbaren, des Leids, der Liebe und der Hoffnung wird miteinbezogen. Wo Menschen das erfahren, erleben sie das oft als sehr heilsam“, erläutert der Religionspädagoge, der auch eine therapeutische Ausbildung absolviert hat.

Von innen heraus verändern

Ob City-Seelsorge oder Gespräche beim Kaffee auf der Straße – Angebote wie diese sind Lichtblicke in einer für die Kirche düsteren Zeit. Womöglich weisen sie in eine bessere Zukunft, in der die Botschaft von Liebe, Hoffnung und Auferstehung nicht im Schatten von Skandalen steht. Beim Synodalen Weg wird gerade um eine Zukunft dieser Kirche gerungen. Heute allerdings müssen sich Menschen, die sich zu der Kirche bekennen, nicht selten fragen lassen: „Bist du immer noch dabei bei dem Verein?“
Auch Elisabeth Baur hat diese Frage oft gehört. „Es verletzt mich nicht wirklich. Ich kann es ja nachvollziehen“, sagt die Erwachsenenbildnerin im Ruhestand aus Schöntal im Bistum Rottenburg-Stuttgart. Es gab Jahre, da war sie selbst – katholisch erzogen und von Kindesbeinen an selbstverständlich sonntags im Gottesdienst – mehr draußen als dabei: zum ersten Mal in ihrer Jugend, als sie auf ihre kritischen Fragen keine Antworten bekam, dann später in dem Jahr, als dem Theologen Hans Küng die Lehrerlaubnis entzogen wurde, und einige Male mehr. „Immer dann, wenn wieder ein Guter oder eine Gute gehen musste, kamen die Zweifel…“, sagt sie. Auch jetzt – wenige Monate nach Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens – findet sie vieles schwer erträglich an ihrer Kirche, in der sie vor ihrem Ruhestand viele Jahre hauptberuflich gearbeitet hat. Dennoch bleibt sie. Denn sie kennt auch die anderen Seiten und hat sie oft erfahren dürfen. „Ich bin dankbar für jede Menge Fülle, die ich aufgrund meines Glaubens erleben durfte. Ich hatte wunderbare, dichte Jahre als Bildungsreferentin in einer katholischen Einrichtung, ich hatte tolle Kollegen und Kolleginnen und durfte eine offene Spiritualität erfahren. Fahrten nach Israel und Ägypten, selbst gestaltete Frauengottesdienste, dazu die Traditionen der kirchlichen Feste, die dazugehören in unserem Jahreslauf. Das alles macht mich reicher und das alles ist für mich Kirche“, erklärt Elisabeth Baur. Deshalb sei es für sie gerade eher dran, für ihre Überzeugungen einzutreten und Kirche mit zu verändern, statt auszutreten.
Elisabeth Baur hat einen Weg gefunden, ihren Einsatz für Veränderungen in der Kirche mit anderen Frauen gemeinsam zu leben. Mit Gleichgesinnten hat sie den neuen KDFB-Zweigverein „2.0 Hohenlohe“ gegründet. Sie unterstützen die Initiative „Maria, schweige nicht!“ und setzen sich so sicht- und hörbar für eine veränderte Rolle der Frauen in der Kirche ein. „Ich habe mir immer erlaubt, selber zu denken in meinem Glauben“, sagt sie. „In meiner Jugend war das noch nicht so, da gab es noch die Angst, darf ich das, bin ich dann noch richtig katholisch? Davon habe ich mich aber schon lange verabschiedet. Wenn ich mit anderen Frauen über Kirche spreche, fällt das Wort ,Heimat’ sehr oft. Die Kirche sitzt mir von klein auf in den Knochen und hat mich geprägt. Es wäre schmerzhaft für mich, das hinter mir zu lassen. Es wäre wie eine Nabelschnur durchzuschneiden. Ich wünsche mir von der Kirche, dass ich positiv begleitet werde in meinem Glauben. Nicht mit Verboten, sondern mit Stärkung und Formen des Austausches. Wenn es dieses große Liebesangebot an uns gibt, muss es auch gelebt werden.“ Ein entscheidender Grund, trotz der Enttäuschungen an ihrer Kirche festzuhalten, ist für Elisabeth Baur und die Frauen in ihrem Zweigverein: „Wenn man drinbleibt, bedeutet das, die Kirche nicht den Ewiggestrigen zu überlassen. Wir sind Kirche. Alle.“

Autorin: Claudia Klement-Rückel

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
© 2024 | KDFB engagiert