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Eltern-Ratgeber: Erste Hilfe bei Cybermobbing

30.11.2023

Beleidigen, Bloßstellen, Ausgrenzen – Cybermobbing ist für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen eine große Gefahr. Fast 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler wurden bereits Opfer. Wie erkennen Eltern, ob ihr Kind betroffen ist? Und was können sie tun?

Die erste Liebe. Für die 13-jährige Nele etwas „noch nie Dagewesenes“. Ihr Freund Steve ist zwei Jahre älter und geht auf das gleiche Gymnasium in Norddeutschland. Nach ein paar Wochen verlangt der 15-Jährige von Nele, ihm ein Nackt-Video zu schicken, und setzt sie mit den Worten unter Druck: „Zeig mir, dass du mich liebst!“ Nele wird mulmig zumute, trotzdem vertraut sie Steve blind und schickt ihm das Video.

Nach vier Monaten beendet Nele die Beziehung. Steve droht ihr, das Nackt-Video in einem Chatroom zu verbreiten: „Ich schwör, ich schick das Video an alle. Ich mach dich fertig. Die ganze Schule wird sehen, was du für eine Schlampe bist!“ Als sie am nächsten Morgen in die Schule geht, merkt sie, wie einige sie komisch angrinsen und über sie tuscheln – irgendetwas stimmt nicht. Von ihrer Freundin Jessica erfährt sie, dass ihr Ex-Freund mit seinen Drohungen Ernst gemacht hat: Mehrere Schüler haben das Nackt-Video auf ihrem Handy. Nele ist Opfer einer Cybermobbing- Attacke geworden.

An diesem Fall wird sichtbar, wie Cybermobbing entstehen kann, erklärt Stefanie Rack. Die 44-jährige Medienpädagogin ist Referentin bei der Medienanstalt Rheinland- Pfalz und für die EU-Initiative „klicksafe“ tätig. Diese hat das Ziel, die Online-Kompetenz durch medienpädagogische Materialien zu fördern und Jugendliche beim kritischen Umgang mit dem Netz zu unterstützen. Für „klicksafe“ war Stefanie Rack auch Mitverfasserin eines pädagogischen Handbuchs zum Thema „Was tun bei (Cyber)Mobbing?“. Außerdem erstellte die ehemalige Grund- und Hauptschullehrerin zusammen mit Jugendlichen aus dem „klicksafe“- Jugendbeirat eine „Cyber-Mobbing Erste-Hilfe-App“.

„Cybermobbing hat sich zu einem dauerhaften Problem in der jugendlichen Lebenswelt entwickelt“, erklärt Rack: „Mobbing und Cybermobbing vermischen sich dabei. Früher endete Hänseln, Ausgrenzen und Beleidigen oft am Schultor. Heutzutage geht es nach Schulschluss per Smartphone, Tablet oder Laptop in sozialen Medien weiter, zum Beispiel in Klassen-Chats. Es gibt keinen Rückzugsort mehr in der digitalen Welt.“

Beinahe 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler zwischen acht und 21 Jahren wurden bereits Opfer von Cybermobbing. Dies ergab letztes Jahr eine bundesweite Online- Befragung des „Bündnis gegen Cybermobbing e.V.“ und der Techniker Krankenkasse. Hochgerechnet könnten rund 1,8 Millionen Jugendliche in Deutschland betroffen sein. Andere Forschungen belegen, dass Cybermobbing vermehrt im Teenager-Alter von 13 bis 15 Jahren auftritt. Mädchen wie Jungen sind fast im gleichen Maße Tatbegehende. Zur rechtlichen Situation: In Deutschland gibt es noch kein Cybermobbing-Gesetz. Es ist aber möglich, gegen einzelne Tatbestände vorzugehen wie Beleidigung, Verleumdung oder Verbreitung von Bildern und Videos ohne Erlaubnis.

„Mobbing entsteht bevorzugt in sozialen Systemen mit Zwangscharakter, aus denen Betroffene nicht entfliehen können, wie eben Schulen. Es handelt sich um ein komplexes Konfliktgeschehen, zu dessen Entstehung und Aufrechterhaltung viele beitragen, wie zum Beispiel Tatbegehende, Assistierende und solche, die Beifall klatschen oder einfach nur zuschauen, sogenannte Bystander“, erklärt Rack. Hintergründe seien oft Eifersucht, enttäuschte Liebe, Zoff in der Freundschaft, Neid, missverständliche Kommunikation oder einfach nur Langeweile. Den Täterinnen oder Tätern gehe es darum, ihre Macht zu erhöhen. Dadurch erhofften sie sich mehr Ansehen in der Klasse oder Gruppe.

„Mobbing kann sehr schnell eskalieren“, so Rack. „Es gibt eine Testphase, in der die Tatbegehenden abchecken, wie das andere Kind auf Sticheleien und Provokationen reagiert. Es beginnt zum Beispiel mit einer Hänselei. Oftmals verhärten sich die Fronten dann, weil Kinder und Jugendliche häufig nicht wissen, wie sie wieder miteinander ins Gespräch kommen sollen und wie der Konflikt verbal gelöst werden kann.“ Das Mobbing kann schnell in eine Abwärtsdynamik geraten, wenn andere in der Klasse einsteigen. Häufig gibt es bei Mobbingfällen eine Gruppe von Zuschauer*innen, also Mitwissende, die aber nicht gegen das Mobbing vorgehen und die Opfer unterstützen. Für die Gemobbten bedeuten die Beleidigungen und Ausgrenzungen eine enorme psychische Belastung, die bis zum Suizid führen kann. „Viele Eltern fühlen sich hilflos und wissen nicht, wie sie ihre Kinder unterstützen können“, sagt Rack. Die Cybermobbing-Expertin aus Heidelberg rät Eltern, behutsam und überlegt in aufbauenden Schritten mit der Situation umzugehen:

1. „Mobbingbrille“ aufsetzen: Ist mein Kind betroffen?

Viele Kinder und Jugendliche wollen ihr Mobbing-Problem erst einmal vor ihren Eltern verstecken, weil sie Angst vor einem Medienverbot haben. Außerdem fürchten sie sich vor der Entwicklung einer Problemspirale, wenn sich die Eltern einmischen. Vor allem Jugendliche wollen das Problem zunächst einmal selbst lösen oder einfach aussitzen und suchen sich keine oder sehr spät Hilfe. Das ist meistens der falsche Weg: Denn in einem verfestigten Cybermobbing-Fall können sich die Opfer nicht mehr selbst helfen.

Deshalb sollten Eltern die „Mobbingbrille“ aufsetzen, wenn sie Veränderungen im Verhalten ihres Kindes bemerken: Wie geht es meinem Kind gerade? Hat sich sein Verhalten beim Umgang mit digitalen Geräten verändert? Hat es Angst, auf das Handy zu schauen oder legt es dieses gar nicht mehr aus der Hand? Leidet es unter Appetitlosigkeit oder Schlafstörungen? Macht es einen psychisch belasteten Eindruck?

Genauer hinsehen sollten Eltern, wenn ihr Kind unter Schulangst leidet. Auch das kann ein Zeichen von Mobbing sein. Wenn Eltern, Erziehungsverantwortliche oder Lehrkräfte nicht früh eingreifen, können sich bei Kindern und Jugendlichen Depressionen entwickeln. In den letzten Jahren kam es weltweit gehäuft zu Suiziden, weil Teenager aufgrund von Cybermobbing keinen Ausweg mehr sahen.

2. Der Verdacht hat sich bestätigt: Was nun?

Wenn sich der Cybermobbing-Verdacht bestätigt hat, ist es am besten, sich über eine Meta-Geschichte dem Problem zu nähern, wie zum Bespiel: „Ich habe von einer Schülerin gelesen, die im Internet beleidigt worden ist. Über sie wurden Gerüchte verbreitet und sie wurde aus dem Klassen-Chat ausgeschlossen. Kennst du so etwas auch aus eurer Klasse?“ Wenn das Kind nun davon erzählt, selbst betroffen zu sein, sollte ihm in Ruhe zugehört werden. Eltern sollten danach fragen, wie sie helfen und unterstützen können. So hat das Kind das Gefühl, mit diesem schwerwiegenden Problem nicht mehr allein zu sein. Eltern sollten behutsam nach den Abläufen des Mobbings fragen und genau notieren, was bisher passiert ist.

3. Erst einmal die Ruhe bewahren

Keinesfalls sollten Eltern überschnell und unüberlegt aktiv werden. Niemals sollten die Eltern des tatbegehenden Kindes direkt angesprochen werden. Denn das kann eskalieren, da Cybermobbing ein sehr emotionales Thema ist. Solche Konfrontationen gehen selten gut aus. Auch sollten Eltern nicht das Täterkind auf dem Pausenhof zur Rede stellen. Erst einmal die Ruhe bewahren!

4. Mobbing-Angriffe dokumentieren und Hilfe suchen

Eltern und betroffene Kinder sollten gemeinsam einen guten Weg finden, mit dem Mobbing umzugehen und zusammen die Möglichkeiten prüfen: Was muss zuerst getan werden? Was brauchst du? Digitalen Abstand? Gemeinsame Zeit und Unternehmungen? Welches „Seelenfutter“ stärkt dich jetzt? Im nächsten Schritt sollten Eltern mit ihrem Kind die Cybermobbing-Angriffe dokumentieren. Vielleicht hat es auch schon selbst Screenshots gemacht, beweisende Nachrichten oder Mails gespeichert. Wenn nicht, sollte das nun nachgeholt und ein Mobbing-Protokoll erstellt werden. Wichtig ist es dabei, die Screenshots der Attacken mit Datum und Uhrzeit versehen abzuspeichern.

Wenn die Beweise gesichert vorliegen, muss Hilfe von außen gesucht und eine neutrale Person eingeschaltet werden. Zuerst sollten sich Eltern an die Lehrkraft wenden. Vielleicht gibt es einen schulpsychologischen Dienst oder Sozialarbeiter*innen an der Schule, die in Konfliktlösungsstrategien ausgebildet sind. Falls die Lehrkraft nicht eingreift, sollte man sich an die Schulleitung wenden. Inzwischen gibt es an manchen Schulen erfahrene (Cyber)-Mobbing-Teams. Auch die Polizei kann helfen. Zuerst sollte aber versucht werden, den Fall innerhalb der Schule zu bearbeiten. Die tatbegehende Person kann man zum Beispiel in sozialen Netzwerken melden, löschen oder blockieren.

5. Den Umgang mit der digitalen Welt lernen

Oft meinen Eltern, sie könnten ihr Kind vor Cybermobbing schützen. Leider können sie es nicht. Das müssen die Kinder und Jugendlichen selbst tun, indem sie sich nicht mit dem Verschicken von allzu privaten Dingen angreifbar machen. So kann es dann auch nicht wie bei Nele zu einem „Sexting“-Fall kommen, einer Mobbing-Form durch die missbräuchliche Verwendung von im Vertrauen geschicktem pornografischen oder erotischen Material. Zum Umgang mit Konflikten: Schon in der Familie, im Kindergarten und in der Schule sollten Kinder lernen, wie man respektvoll Konflikte löst und Grenzen wahrnimmt (zum Beispiel: Wenn das andere Kind Stopp sagt, dann ist Schluss!). Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen sollten prosoziales Verhalten vorleben, fordern und fördern. Kurzum: Die Stärkung in der nichtdigitalen Welt sollte schon früh beginnen. So sind Kinder und Jugendliche später für den Umgang mit der digitalen Welt besser gewappnet.

Ein wichtiger Part im Umgang mit Mobbing liegt bei den Grund- und weiterführenden Schulen. Der Fokus muss auf einer guten Schulgemeinschaft mit einer ebensolchen Gesprächs- und Streitkultur liegen. Es ist enorm wichtig, dass man aus einem Streit kommunikativ gut rauskommen kann. Diese Kompetenz brauchen Jugendliche unbedingt. Zudem ist es auch für die Zukunft der Demokratie wichtig, dass Kinder und Jugendliche in den Klassen einen Werterahmen haben. Es darf nicht geduldet werden, dass jemand beleidigt oder ausgegrenzt wird. Wenn ein Mobbingfall nicht gleich geahndet und richtig bearbeitet wird, dann wird verletzendes und ausschließendes Verhalten normalisiert. Lehrkräfte müssen alles daransetzen, eine respektvolle Umgangsweise untereinander zu vermitteln und der aktuellen Medienwelt entgegenzusteuern, in der es Jugendlichen oftmals an guten medialen Vorbildern fehlt. Es gibt im Fernsehen viele Mobbing-Formate, in denen es hauptsächlich darum geht, sich auf Kosten anderer zu belustigen. Eltern sollten deshalb TV-Formate aussuchen, in denen Menschen nicht abgewertet werden.

Prävention ist im Umgang mit der digitalen Welt sehr wichtig: Mobbing sollte deshalb in Schulen als Thema behandelt werden. Eines der wichtigsten Ziele der Präventionsarbeit ist es, Jugendliche darin zu bestärken, in (Cyber)-Mobbing- Fällen zu helfen und für die Gemobbten einzutreten.

Autorin: Karin Schott

Hier gibt es Hilfe

Cybermobbing melden: Facebook, WhatsApp, Instagram, YouTube und andere Netzwerke bieten Möglichkeiten, Vorfälle oder Personen zu melden und zu blockieren. Anleitungen unter www.saferinternet.at

Links zum Thema Cybermobbing:

www.klicksafe. de/cmapp (Cyber-Mobbing Erste-Hilfe- App, auch als barrierefreie Version für Menschen mit Beeinträchtigung unter „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe App“ erhältlich), www.mobbing-schluss-damit.de, www.juuuport.de (Online-Beratung von Jugendlichen für Jugendliche). Weitere Hilfsstellen siehe unter www.klicksafe.de/cybermobbing

Hilfe per Telefon unter der Nummer gegen Kummer: 116 111

Links zur Polizei: www.polizei-beratung.de, www.polizeifuerdich.de. Unter www.polizei-dein-partner.de gibt es eine Erste-Hilfe-App bei Cybermobbing.

Zum Weiterlesen:

Kira Wiesenrath: Mobbing in der Schule und im Kindergarten. Der große Ratgeber für Eltern zur Mobbing-Prävention und Stärkung ihrer Kinder, Eigenverlag, 2022, 14,99 Euro.

Stiftung Warentest: Der Elternratgeber: TikTok, Snapchat und Instagram. Sichere Begleitung von Kindern in Social Media, 2021, 16.90 Euro (unter www.test.de für fünf Euro).

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
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