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Straßenjugendliche: Wenn das Zuhause fehlt

28.09.2023

Jugendliche, die nicht wissen wohin – mitten in Deutschland? Das gibt es – leider mit steigender Tendenz. Die Organisation „Off Road Kids“ hilft ihnen seit mittlerweile 30 Jahren aus der Krise. Mit etwas Aufwand fassen die allermeisten wieder Fuß, so die Erfahrung. Deshalb lohnt es sich zu helfen. Die diesjährige KDFB-Spendenaktion unterstützt die Hilfsorganisation.

Ich saß nur noch da und weinte. Es hat gedauert, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte“, erinnert sich Lea* an ihren ersten Termin bei der Sozialarbeiterin der „Off Road Kids“, bei dem sich die Emotionen der jungen Berlinerin ihre Bahn brechen. Plötzlich hört ihr jemand zu, hält ihre Gefühle aus. Kontrolle über ihr Leben hatte die junge Frau bereits seit einer Weile nicht mehr. Seit Februar war ihre Welt vollkommen aus den Fugen geraten. Die 21-Jährige weiß plötzlich nicht mehr wohin. Beruflich gelingt es ihr nicht, Fuß zu fassen. Ihre Weiterbildung scheitert, weil sie durch die Prüfung fällt, und dann setzt ihre Mutter sie auch noch vor die Tür. „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“, sagt die junge Frau, die bis Anfang des Jahres mit ihrer Mutter zusammenlebte. „Seit ich 14 war, war es extrem schwer für mich zu Hause. Zuletzt wurden die Spannungen mit meiner Mutter immer stärker.“ Nun stand sie unvermittelt auf der Straße. „Es war ein schreckliches Gefühl“, sagt sie. „Man kann das nicht schönreden, man fühlt sich vollkommen hilflos.“ Fünf Stunden dauert es, bis wieder Hoffnung aufkeimt in Lea. Fünf Beratungstermine, in denen sich eine Sozialarbeiterin um sie kümmert – in all ihrer Verletzlichkeit.

Straßenjugendliche dürfte es in Deutschland eigentlich gar nicht geben. Eltern oder ersatzweise die Kinder- und Jugendhilfe sind dafür verantwortlich, dass junge Menschen in Sicherheit aufwachsen können und auf ein eigenständiges Leben vorbereitet werden. Es gibt sie aber doch. Tendenz steigend. Auch wenn viele alles dafür tun, möglichst unsichtbar zu bleiben. Sie versuchen verzweifelt, nachts irgendwo unterzukommen, wechseln häufig von einem Sofa bei Bekannten zum nächsten, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen. „Unter dem Begriff ,Straßenjugendliche‘ verstehen wir sowohl wohnungs- als auch obdachlose Jugendliche und junge Erwachsene unter 26 Jahren, die keinen festen Wohnsitz haben. Ihr Aufenthaltsort muss nicht zwangsläufig die Straße sein. Eingeschlossen sind auch junge Menschen, die in einer sehr unsicheren Wohnsituation sind und versuchen, irgendwo unterzukommen“, erklärt die Sozialwissenschaftlerin Sarah Beierle vom Deutschen Jugendinstitut. Einer Schätzung des DJI von 2017 zufolge gibt es in Deutschland 37 000 Straßenjugendliche bis 26 Jahre. Auch wenn man sie nicht unbedingt sieht. „Die verdeckte Obdachlosigkeit ist in den letzten Jahren größer geworden“, sagt Sozialarbeiterin Tanja Minck. „Das Problem ist nicht kleiner geworden, im Gegenteil, sondern weniger sichtbar.“ Die Hamburgerin arbeitet für die „Off Road Kids“ und berät Jugendliche, die kein Zuhause haben. Die Hilfsorganisation ist bundesweit tätig und begeht in diesem Jahr den 30. Geburtstag. Die Bilanz von „Off Road Kids“ dieser drei Jahrzehnte kann sich sehen lassen: über 10 000 Jugendliche mit einem Dach über dem Kopf versorgt, Zehntausende junge Menschen beraten. Zahlen, hinter denen das Schicksal und die Zukunft junger Menschen stehen. Laut dem Deutschen Jugendinstitut ist ein Drittel der betroffenen Jugendlichen weiblich. Tanja Minck hat sogar die Erfahrung gemacht, dass in die Beratungsstelle in Hamburg ebenso viele junge Frauen wie Männer kommen. „Woran das liegt, kann man nur vermuten. Möglicherweise suchen sich junge Frauen eher Unterstützung.“

Straßenjugendliche brauchen Unterstützung!

So können Sie helfen
Mehr als 10 000 Jugendlichen hat die „Off Road Kids“ Stiftung geholfen, wieder ein Dach über dem Kopf zu finden. Die als gemeinnützig anerkannte Stiftung finanziert ihre Tätigkeiten im Wesentlichen durch Spendeneinnahmen und wurde für die Wirkung ihrer Initiativen vielfach ausgezeichnet. Da die Anfragen seit der Corona-Pandemie deutlich gestiegen sind, ist die Stiftung auf Unterstützung angewiesen. Deshalb hat sich der KDFB entschieden, bei seiner diesjährigen Spendenaktion mit den „Off Road Kids“ zusammenzuarbeiten.

Wenn Sie mithelfen möchten, dass Jugendliche eine
Zukunft haben, können Sie unter folgender Kontoverbindung spenden:

Spendenkonto:
Katholischer Deutscher Frauenbund
Liga Bank Regensburg
IBAN: DE97 7509 0300 0202 2085 55
BIC: GENODEF1M05
Stichwort: Frauenbund hilft

Bis zu einem Betrag von 300 Euro reicht eine Kopie des Bankauszuges für den Spendennachweis beim Finanzamt aus. Dafür ist es zwingend notwendig, bei der Überweisung im Betreff das Wort „Spende“ zu vermerken. Spendenbescheinigungen werden ab einem Betrag von mehr als 300 Euro automatisch ausgestellt, ansonsten erfolgt eine Spendenbescheinigung auf gesonderte Nachfrage.

„Mein Körper war mir zu kostbar, um mich einfach draußen hinzulegen"

Auch Lea hat alles drangesetzt, nicht auf der Straße schlafen zu müssen. Sie versucht, bei Freunden und Bekannten unterzukommen. Meist gelingt ihr das, aber nicht immer. Manchmal weiß sie einfach nicht wohin. „Es gab schon einige Nächte, wo ich keinen Platz zum Schlafen hatte und draußen war“, schildert die 21-Jährige. „Ich hatte zum Glück noch etwas Geld für eine Fahrkarte und bin dann die ganze Nacht in der S-Bahn gesessen und hin- und hergefahren, damit ich nicht auf der Straße schlafen muss. Mein Körper und die Dinge, die ich bei mir hatte, waren mir zu kostbar, um mich einfach irgendwo hinzulegen.“ Von Bekannten erfährt sie, dass es Hilfsmöglichkeiten gibt, und sie beginnt an ihrem Handy zu recherchieren. Schnell stößt sie auf die „Off Road Kids“ und wählt nach kurzem Zögern ihre Nummer.

Die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne festen Wohnsitz haben ein Handy dabei und können sich vernetzen. Ihr Smartphone ist kein Zeichen für Wohlstand, sondern wird zum Mittel fürs Überleben, gerade wenn man jeden Tag nach einer neuen Bleibe suchen muss, in der Hoffnung, bei einem der Kontakte unterzukommen und wieder eine Nacht auf einem Sofa zu verbringen. Dass die Jugendlichen online unterwegs sind und sich so melden können, hat die Straßensozialarbeit von Grund auf verändert. „Wir sind viel weniger direkt auf den Straßen unterwegs“, erklärt Sozialarbeiterin Tanja Minck. Rund 90 Prozent der Hilferufe kommen mittlerweile online. „Je nachdem, wo die oder der Hilfesuchende sich aufhält, vereinbaren wir entweder Beratungstermine direkt bei uns im Büro oder helfen telefonisch weiter. Zunächst müssen wir die Themen angehen, die ganz obenauf liegen: die Wohnsituation und die finanzielle Lage“, beschreibt Minck das Vorgehen. Denn wer nicht weiß, wo er schlafen, essen und duschen kann, der hat den Kopf nicht frei dafür, eine Perspektive für das eigene Leben zu entwickeln. „Housing first“ nennen das die Fachleute und meinen damit, dass wohnungslose Menschen ein Recht auf Wohnen haben. In Hamburg stehen der Organisation seit einiger Zeit sogar vier kleine Wohnungen zur Verfügung, die sie an junge Menschen ohne festen Wohnsitz vergeben kann – für höchstens sechs Monate, bis sie selber eine feste Bleibe gefunden haben. Andernorts suchen die Sozialarbeiter*innen nach Unterbringungsmöglichkeiten und müssen dafür häufig sehr findig sein.

Sozialwissenschaftlerin Sarah Beierle konnte nachweisen, dass Straßenjugendliche nicht nur ein großstädtisches Problem sind. „Es gibt auch viele Betroffene, die nicht in Berlin, Hamburg oder München leben. In kleinen Städten und auf dem Land gibt es die Problematik ebenso, wenn auch verdeckter. Zahlenmäßig sind die Unterschiede prozentual gesehen gar nicht so groß“, erklärt sie.

Lea hat erst mal einen Frauenschlafplatz vermittelt bekommen. Dort konnte sie sich nachts im geschützten Raum aufhalten, tagsüber musste sie raus aus der Einrichtung. Aber es war ein erster Schritt. „Ich war vollkommen von den Socken, was meine Beraterin gleich bei unserem ersten Termin alles für mich in die Wege geleitet hat“, sagt sie. „Sie hat sich um die Krankenversicherung, die ich nicht mehr hatte, um einen Antrag auf Bürgergeld und um den Schlafplatz gekümmert.“

Auch vermeintlich kleine Dinge können viel bewirken, hat Sozialarbeiterin Tanja Minck von den Off Road Kids oft erlebt: „Dass wir zum Beispiel eine Postadresse zur Verfügung stellen können für die Betroffenen, verändert das Leben von Grund auf und ist eine Riesenhilfe.“ Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen können sich ihre Post an die Adresse der „Off Road Kids“ schicken lassen und sie dort regelmäßig abholen. Erst so ist es überhaupt wieder möglich, mit Krankenkasse, Jobcenter und Behörden zu kommunizieren.

Sarah Beierle vom Deutschen Jugendinstitut, die die Studie zu Straßenjugendlichen in Deutschland mitverfasst hat, ist nicht verwundert, dass sich die Hilferufe, die bei „Off Road Kids“ ankommen, seit der Corona-Pandemie vervierfacht haben: „Es war eine psychisch extrem belastende Zeit für die jungen Leute, gerade für die aus zerrütteten Familien. Die Folgen sehen wir jetzt.“ Sie hat Verständnis für so manche Startschwierigkeit. „Die Phase der Verselbstständigung ist eine schwierige und komplexe, auch wenn alles gut läuft. Erinnern wir uns daran, wie wichtig die Unterstützung – sowohl emotionaler als auch finanzieller Art – durch unsere Eltern für uns war, als wir in der Ausbildung oder im Studium waren. Wenn junge Erwachsene in dieser Zeit vollkommen alleine gelassen sind, ist es sehr schwer für sie, Fuß zu fassen. Eltern sind immer noch die wichtigsten Berater ihrer Kinder, wenn es um die Berufswahl geht. Sie sind häufig Türöffner durch Vermittlung von Praktikumsplätzen und Hilfe beim Bewerben. Wer das alles nicht hat, hat es deutlich schwerer“, sagt Beierle. Eines ist ihr in den vielen Interviews, die sie im Rahmen ihrer Forschungsarbeit geführt hat, immer weder aufgefallen: „Die wohnungslosen jungen Menschen, denen ich begegnet bin, wünschen sich eigentlich alle ein ganz normales Leben. Sie träumen von einer Wohnung, einer Arbeit, einer Familie.“

„Ich konnte spüren, wie die Depression in mir hochkroch“

Laut der Studie des Deutschen Jugendinstituts sind die Gründe für „Straßenkarrieren“ vielfältig und komplex. Häufig berichteten die Jugendlichen von Gewalterfahrungen und Verwahrlosungstendenzen in den Herkunftsfamilien. Außerdem spielten Armut, Arbeitslosigkeit, Überschuldung, niedrige Bildungsabschlüsse der Eltern sowie eine Suchtproblematik, wie beispielsweise Alkoholismus, eine Rolle. Aber auch, dass die Eltern sich getrennt haben und wegziehen oder dass sich ein Kind nicht angenommen fühlt, kann ein Grund sein, warum Kinder von zu Hause weggehen oder rausgeworfen werden, weiß Tanja Minck von den „Off Road Kids“. „Es kommt auch vor, dass Eltern ihr Kind nicht so akzeptieren können, wie es ist, zum Beispiel wenn die sexuellen Interessen in eine andere Richtung gehen, als von den Eltern erwartet“, sagt sie.
Eine Gruppe, die immer wieder auftaucht, sind junge Menschen, die in betreuten Jugendwohneinrichtungen untergebracht waren und nun volljährig sind. „Leider werden sie häufig sehr abrupt aufgefordert auszuziehen, wenn sie
18 sind. Der Schritt in die Selbstständigkeit scheint häufig schlecht vorbereitet zu sein, und sie stehen dann alleine da“, berichtet Tanja Minck. Das geht nicht selten schief.

Lea wusste gar nicht mehr, wo sie anfangen sollte. Alles, was zu regeln war, schien ihr wie ein unüberwindbarer Berg. Sie fühlte sich heillos überfordert. „Ich konnte spüren, wie die Depression in mir hochkroch. Morgens war sie schon da, und ich wollte eigentlich nur noch schlafen“, sagt sie. Am liebsten alles vergessen.

Sozialarbeiterin Tanja Minck klärt auch über Verhütung auf.

Viele der betroffenen jungen Menschen haben große psychische Probleme. Tanja Minck hat Gesundheitswissenschaften studiert, berät speziell in allen Fragen rund um die Gesundheit und koordiniert das Projekt „Streetwork+“. Alle „Off Road Kids“-Mitarbeiter*innen sind dank dieses Projekts zu Gesundheitsthemen geschult. „Die psychische Gesundheit ist ein ganz großes Thema. Bei manchen, weil sie in ihren Familien schlimme Dinge erlebt haben, eventuell schon die ganze Kindheit hindurch. Bei anderen, weil sie auf der Straße Schlimmes durchmachen mussten. Erst wenn man sie untergebracht hat, öffnen sie sich.
Gesundheitsfragen und auch das Thema Verhütung fallen häufig hintenüber, wenn man kein Dach über dem Kopf hat. Erst wenn sie wieder etwas zur Ruhe gekommen sind, können wir anfangen, uns um Gesundheitsthemen zu kümmern. Dann wird das auch dankbar angenommen.“
Die Beratungsstellen kooperieren auch mit einigen Zahnarzt- und gynäkologischen Praxen, bei denen sie schnell Termine bekommen und die den jungen Menschen gegenüber offen eingestellt sind. Gerade junge Frauen, die bei Bekannten unterkommen, sind immer wieder mit dem Thema sexueller Missbrauch konfrontiert. „Wir schaffen da häufig erst ein Bewusstsein für die Situation, in der sie sich befinden, und versuchen, Hilfestellung zu geben, dass sie schnellstmöglich rauskommen aus dieser Lage“, erklärt Tanja Minck, die auch in Verhütungsfragen und zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten berät.

Ein großes Ziel von „Off Road Kids“ ist es, frühzeitig zu helfen, bevor die Jugendlichen zu sehr auf der Straße verhaftet sind und sich die unguten Strukturen verfestigt haben. Wenn eine gewisse Stabilisierung erreicht ist, kann man anfangen, gemeinsam an den Zukunftsplänen der Jugendlichen zu arbeiten. Dabei schauen die Berater*innen, welche Ressourcen der oder die Einzelne mitbringt, beispielsweise wie es mit schulischen Abschlüssen aussieht. An zwei Standorten bietet „Off Road Kids“ auch schon die Möglichkeit, den Schulabschluss nachzuholen.

Lea hat die Mittlere Reife erfolgreich absolviert, bevor sie in Schwierigkeiten geraten ist. Zeitweise hat sie bei einer Sicherheitsfirma gearbeitet. „Ich möchte Lokführerin werden“, sagt sie. Sie hofft auf eine Weiterbildung des Arbeitsamtes. Derweil richtet sie eine kleine Wohnung ein – ihre Wohnung. Seit Juli hat sie ein eigenes Dach über dem Kopf. Sie hat auf 400 Wohnungsinserate reagiert, bei 20 durfte sie zur Besichtigung kommen. Ihre Beraterin bei den „Off Road Kids“ hat sie darauf vorbereitet. Lea hat verstanden, dass es in Berlin mit der angespannten Situation am Wohnungsmarkt derzeit für sie nicht möglich ist, eine bezahlbare Bleibe zu finden. Nun wagt sie einen Neuanfang in einer Kleinstadt, über 100 Kilometer entfernt von ihrer Heimatstadt. Kontakt zu ihrer Beraterin hat sie immer noch. Oft entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis, und die jungen Leute holen sich noch Rat bei einzelnen Anliegen, wie zum Beispiel behördlichen Schreiben. Verlässliche Begleiter*innen sind es, die sie brauchen und die sie viel zu selten hatten. „Mit etwas Aufwand fassen die allermeisten wieder Fuß“, weiß Tanja Minck aus ihrem Arbeitsalltag. Ein Aufwand, der sich lohnt.

Claudia Klement-Rückel

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
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