Menü

Gottes Nähe spüren

20.01.2022

Advent, Weihnachten, Neujahr: Zeiten, die zu Rückblick und Aufbruch einladen, etwa dazu, dem Glauben der eigenen Kindheit nachzuspüren. Denn kindliche Erfahrungen prägen die persönliche Gottesbeziehung in besonderer Weise. Eine seelische Reise, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet.

 

Es war im Advent vor vielen Jahren, erinnert sich die evangelische Theologin Marion Küstenmacher. Der Abend dämmerte. Und sie, damals ein fünfjähriges Mädchen, war in Würzburg, ihrer Heimatstadt, unterwegs, um zusammen mit ihrem Vater Krippen in Kirchen anzuschauen. In einer der Kirchen blieb sie wie angewurzelt stehen, denn vorne am Altar entdeckte sie ein rotes Licht. „Was ist das?“, fragte sie den Vater. Seine Antwort hat Marion Küstenmacher zutiefst bewegt: „Das Licht sagt, Gott ist da“, meinte er schlicht, dabei hielt er ihre kleine Hand in seiner großen. Noch heute spürt sie, welche Erkenntnis sie damals durchfuhr. Der Satz ging ihr nicht mehr aus dem Sinn, und nichts wünschte sie sich sehnlicher als ein rotes Lämpchen für ihre Puppenküche. Sie bekam es. „Ich kann mich erinnern, wie ich im Dunkeln glücklich vor meiner Puppenküche saß, die in ein rotes Leuchten gehüllt war. Es war mein erster selbst gestalteter Raum für Gott“, erzählt die Theologin und renommierte Autorin spiritueller Bücher.

Gotteserfahrungen müssen nicht fromm sein

Marion Küstenmacher sammelt kindliche Gotteserfahrungen. Sie sind wie goldene Fäden, die Erwachsene in den Teppich ihres Lebens knüpfen können, sagt sie.  „Es handelt sich dabei um intime Erlebnisse, die einem Kind ganz alleine gehören, solche, die sich schön anfühlen und die Seele zutiefst ansprechen. Und sie müssen nicht unbedingt fromm sein“, sagt sie. Kinder haben ein feines Gespür für die Welt, begierig nehmen sie auf, was um sie herum geschieht. Je jünger sie sind, umso bedeutsamer erscheinen ihnen Gegenstände: Ein Klötzchen kann mal ein Schiff, mal ein Auto sein. Der Teddy scheint lebendig. Das Lämpchen in der Puppenküche steht für Gott. Küstenmacher strahlt, wenn sie davon erzählt. Für sie beginnt spirituelles Erleben mit Achtsamkeit. Kinder seien eine Inspiration da­bei. Denn: „Kinder können ganz ungeteilt präsent sein, im Augenblick versinken, alles in sich aufnehmen, was um sie herum geschieht“, sagt sie. Genau das habe Jesus gemeint, als er sagte: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen“ (Matthäus 18,3).

Kleine Momente, die in die Tiefe des Augenblicks führen

Die Theologin möchte dazu anregen, Achtsamkeit immer wieder neu einzuüben. Etwa so: „Wenn Sie Kaffee trinken, schmecken Sie, riechen Sie, fühlen Sie die Tasse in der Hand. Seien Sie wach, seien Sie ganz bei dem, was Sie gerade tun.“ Um große mystische Erlebnisse gehe es dabei nicht, eher um kleine Momente, die in die Tiefe des Augenblicks führen. Sie sind das zart glitzernde Gold, das mit Freude entdeckt und in den Teppich des Lebens eingewoben werden kann.

Das Symbol des Teppichs ist Marion Küstenmacher in Werken von Dichter*innen, Philosoph*innen, Mystiker*innen begegnet. So etwa bei der kanadischen Schriftstellerin Lucy Maud Montgomery (1874–1942), die schrieb: „Das Leben lag vor ihr ausgebreitet wie ein verheißungsvoller, bunter Teppich, dessen Muster entworfen, aber noch längst nicht festgelegt war.“ Oder beim islamischen Mystiker Dschelaleddin Rumi: „Jeder Augenblick und jeder Ort sagt: Webe dieses Muster in deinen Teppich ein.“

Es ist nie zu spät, beglückende Momente aus der Kindheit wieder aufzudecken

Der Teppich steht für das Leben, die Lebensjahre, die Erfahrungen. Auch für die großen Fragen nach Gott, nach dem Sinn: Was trägt mich durchs Leben? Was erhebt meinen Geist? Was begeistert mich? Wenn Küstenmacher nach besonderen Kindheitsmomenten sucht, möchte sie keineswegs Schmerzvolles ausklammern, eine schwere Kindheit etwa oder Brüche im Erwachsenenleben. „Der Lebensteppich kann Löcher haben“, sagt sie. „Er kann zerfetzt sein, verblasst sein, die Motten können eingefallen sein. Es ist aber nie zu spät, die Erzählung über die eigene Kindheit noch einmal in die Hand zu nehmen und beglückende Momente aufzudecken“, ist sie überzeugt. Wie etwa diese Erfahrung eines Schulmädchens bei einem Turnhallenspiel: Die Kinder sollten sich vorstellen, Fische zu sein, der Fußboden war das Meer. Marion Küstenmacher hat in einem Buch* dazu angeleitet. Ein Mädchen kam danach zu der Lehrerin, einer Klosterschwester, gerannt, und rief: „Schwester, ich war das Meer, und ich war die Fische, und ich war Gott!“– „Oh“, habe die Schwester geantwortet, „da hast du etwas Besonderes erlebt, das wollen wir uns gut merken!“

Das Kind ernst nehmen, das man selbst mal war

Voller Freude berichtet Küstenmacher von dieser Begebenheit. Es sei wichtig, das Kind erzählen zu lassen, es ernst zu nehmen. Auch dasjenige, das man selbst einmal war. Und das geht so: „Versuchen Sie, sich an schöne Augenblicke Ihrer Kindheit zu erinnern, die nur Sie erlebt haben. Wie fühlt sich das an? Was strahlt es aus? Welches Thema entdecken Sie darin? Steigen Sie mit allen fünf Sinnen in die Erinnerung ein. Und dann schreiben Sie alles auf, so ausführlich wie nur möglich“, rät Küstenmacher. Dabei gehe es weder um hohe Ansprüche noch um kirchliche Bezüge. In ihrem Buch „Mein fliegender Teppich des Geistes“ schreibt die Theologin unter anderem von der „Scheibenwischertrance“, die sie erlebte, als sie Anfang der 1960er-Jahre mit ihren Eltern bei Regen im Auto fuhr. Für sie habe sich damals der Opel Rekord ihres Vaters „in eine mit Wasser überzogene, halbtransparente Meditationsbox“ verwandelt. „Versuchen Sie sich zu erinnern“, regt Küstenmacher an: „Was habe ich als Kind wahrgenommen? Wofür war ich empfänglich? Es ist wunderbar, sich selbst als Kind zuzulächeln und zu sagen: ,Klasse hast du das gemacht!‘ Und ich als Erwachsene habe verstanden, wie es weitergeht, ich erzähle unsere gemeinsame Geschichte jetzt weiter!“

 

Autorin: Maria Sileny
aus: KDFB engagiert 6/2021

Zum Weiterlesen

  • Niemand weiß, wie Gott ist

    Der Theologe Konrad Haberger ermutigt zu einem Glauben, der sich immer weiterentwickelt, ein Leben lang.

     

    Jesukindlein komm zu mir, mach ein frommes Kind aus mir…“, das liebliche Gebet ist ein Klassiker. Wer damit aufgewachsen ist, fühlt sich beim Klang der Verse sofort in die eigene Kindheit versetzt.

    Davon erzählt der katholische Theologe Konrad Haberger. Der Niederbayer lädt in seinen Seminaren ein, der persönlichen Glaubensgeschichte nachzugehen. Er selbst erinnert sich gerne an dieses Abendgebet aus seinen Kindertagen. Ein Gefühl von Geborgenheit, Schutz und Sicherheit sei damit verbunden. „Der kleine Jesus kommt zu mir, der Schutzengel wacht über mir, auch Oma und Opa sind da, ich kann friedlich einschlafen“, erzählt er und spricht vom „Urvertrauen“, das am Anfang des Lebens entsteht.

    Aufgewachsen mit Gott als Richter

    Schön, wenn es dabei bleibt. Nicht selten aber vermengt sich das Heimelige schon früh mit dem Unheimlichen: „Sei brav, Gott sieht dich!“ Die Furcht vor dem allmächtigen Gott schleicht sich ein, der ins Innerste sieht, vor dem nichts verborgen bleibt. Aus vielen Gesprächen, auch mit Frauen aus dem Frauenbund, weiß Konrad Haberger, dass Menschen der älteren Generation häufig mit dem Gottesbild eines Richters groß geworden sind, dessen strenger Blick sie überall begleitet.

    Der Jesuitenpater Karl Frielingsdorf nennt solche Gottesbilder „dämonisch“. In seinem Buch „Gottesbilder. Wie sie krank machen – wie sie heilen“ spricht er von einem Buchhaltergott, der jede Tat, jeden Gedanken genau festhält, oder von einem überfordernden Leistungsgott, der sich nie zufriedengibt. Meist schlummern solche Bilder im Unbewussten, verborgen unter der Rede vom lieben Gott. Von dort verbreiten sie Trostlosigkeit und Unruhe. „Das persönliche Gottesbild ist jene innere Kraft, die unser Leben im Tiefsten tragen und inspirieren, aber auch behindern und belasten kann“, schreibt Frielingsdorf.

    Sinnliche Erlebnisse rund ums Kirchenjahr gehören zu den Schätzen der Kindheit

    Konrad Haberger ermutigt in seinen Seminaren dazu, das Verborgene, Verdrängte, Vergessene ans Licht zu holen und sich damit auseinanderzusetzen. „Wer hat mir von Gott erzählt? Die Oma vielleicht? Was hat sie gesagt?“ Solche und ähnliche Fragen führen mitten in die Glaubenswelt der eigenen Kindheit. Erinnerungen steigen hoch, mal furchterregend, mal wunderschön. Sinnliche Erlebnisse rund um das Kirchenjahr seien häufig dabei: Prozessionen, Glockenläuten, Blumen, Musik, Weihrauchduft, Kerzenlicht. Bilder, die auftauchen, können aufgeschrieben oder aufgemalt werden. Danach heißt es: sortieren. Teilnehmer*innen tauschen sich aus und überlegen: „Was war gut, was möchte ich behalten? Was belastet mich, was lege ich ab?“

    „Sei ganz, sei versöhnt mit dir selbst!“

    Auf der Reise zu einer reifen Gottesbeziehung geht es um Erfahrungen, um Geschichten, um Symbole. „Auch in der Bibel offenbart sich Gott auf diese Weise, anders lässt sich Gott nicht fassen. Niemand weiß, wie Gott ist“, erklärt Konrad Haberger. Und sofort ist er bei der Geschichte von Abraham und Isaak (Genesis, 22,1-13). „Opfere mir deinen Sohn!“, verlangt Gott von Abraham. „Ist das nicht wahnsinnig? Abraham wäre bereit gewesen, auf Gottes Geheiß seinen Sohn zu töten und damit seine eigene Zukunft auszulöschen“, sagt Haberger. Wie lässt sich diese uralte Erzählung verstehen? Laut Konrad Haberger handelt sie von einer Wandlung des Gottesbildes. Denn dieser Gott, der von Abraham das unsägliche Opfer verlangt, heißt im Hebräischen „Elohim“, ein Pluralwort, das auch mit „die Gottheiten“ übersetzt werden könnte, wie Haberger erklärt. Abraham hat schon das Messer gezückt, da stoppt ein Engel Jahwes seine Hand. „Ein jahrtausendelanger Prozess verdichtet sich in dieser Geschichte. Anstelle der archaischen Gottheiten, die Menschen in ihrer Gewalt haben und Opfer verlangen, tritt Jahwe in Erscheinung“, sagt Konrad Haberger und erklärt weiter: Jahwe ist ein Name, der sich kaum übersetzen lässt. Das Wort könnte schlicht das Verb „sein“ bedeuten oder auch „Ich bin da“, vielleicht steht es für die Zukunft: „Ich werde sein“ oder „Du wirst sein“. Psychologisch ließe sich laut Haberger die Abraham-Erzählung so deuten: „Gott will, dass du lebst, dass du eine Zukunft hast und dass du als erwachsener Mensch tradierte Gottesbilder hinter dir lassen kannst.“ Gott ist nicht fassbar, Gott ist Vielfalt, Gott kann Vater oder Mutter sein. Gott schließt nicht aus. Dazu passe auch der Satz, den Gott zu Abraham sagt, als er einen Bund mit ihm schließt (Mose, 17,1): „Geh deinen Weg vor mir und sei ganz.“ Sei „ganz“. Das Originalwort im Hebräischen meine nicht etwa – wie es gerne übersetzt werde – „makellos“ oder „rechtschaffen“ in einem moralischen Sinne, sondern: „Sei ein ganzer Mensch. Auch deine Schattenseiten gehören zu dir. Sei ganz, sei versöhnt mit dir selbst!“

    „Jesus hat die Menschen nicht krumm gemacht. Er hat sie entkrümmt.“

    Schritt für Schritt begleitet die Bibel auf dem Weg zu einer reifen Spiritualität. Im Namen Jahwes handelt auch Jesus im Neuen Testament, wenn er etwa Kranke von Dämonen befreit und sie heilt. Zum Beispiel die gekrümmte Frau, von der Lukas erzählt (Lukas, 13,10): 18 Jahre lang war die Frau schon krank, denn ein Geist plagte sie. Sie war verkrümmt und konnte nicht aufrecht gehen. In diesem Zustand wagt sie sich in die Synagoge, mitten unter hochgestellte Männer, am Sabbattag. Jesus sieht sie, ruft sie zu sich und bindet sie von ihrer Krankheit los – obwohl Heilen am Sabbat verboten ist. Die Frau richtet sich auf und preist Gott.

    „Jesus von Nazaret hat die Menschen nicht krumm gemacht. Im Gegenteil, er hat sie entkrümmt“, sagt Konrad Haberger. Außerdem: Jesus war nicht autoritätshörig, er war frei.

    Die Bibel inspiriere dazu, frei und aufrecht den eigenen Weg zu gehen. Ein lebendiger Prozess sei das, betont Haberger: „Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat sich eine Form des Glaubens entwickelt. Wie aber geht es weiter? – Nicht stehen bleiben.“

     

    Autorin: Maria Sileny
    aus: KDFB engagiert 6/2021

  • Buchtipps

    Marion Küstenmacher: Mein fliegender Teppich des Geistes. Wie sich aus Kindheitserfahrungen eine lebendige Spiritualität weben lässt, Gütersloher Verlagshaus, 2021, 20 Euro.

    Karl Frielingsdorf: Gottesbilder. Wie sie krank machen – wie sie heilen, Echter Verlag, 2016, 9,90 Euro.

    Stefan Jürgens: Von der Magie zur Mystik. Der Weg zur Freiheit im Glauben, Patmos, 2021, 19 Euro.

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
© 2024 | KDFB engagiert