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Wie wichtig Bräuche sind

01.12.2024

Ganz besonders in der Weihnachtszeit haben sie eine tiefe spirituelle Bedeutung und vermitteln Geborgenheit: Rituale und Bräuche. Zudem strukturieren sie den Alltag, formen unsere ­Identität und schenken ein Gefühl von Zusammenhalt.

Vier Kerzen, die so viel ausdrücken: die Lichter des Adventskranzes. „Advent bedeutet Ankunft. Wir warten auf die Ankunft Gottes – und es wird jede Woche ein bisschen heller, weil die vier Kerzen nicht gleichzeitig und sofort angezündet werden, sondern jede Woche ein Licht mehr“, erklärt Regina Ries-Preiß, Referentin für Theologie und Spiritualität beim KDFB Landesverband Bayern. „Die Geburt Jesu an Weihnachten ist zentral im christlichen Glauben: Wir feiern, dass Gott auf die Welt gekommen ist. Er hat sich uns in Jesu Geburt geschenkt − als Mensch!“

Mit der Advents- und Weihnachtszeit sind im christlichen Glauben viele Bräuche und Rituale verbunden. Bräuche gehen Hand in Hand mit Zeichen, wie zum Beispiel die Geschenke an Weihnachten. „Wir schenken uns etwas, weil es uns so froh macht, dass Gott Mensch geworden ist. Geschenke sind Ausdruck unserer Freude und Dankbarkeit darüber.“ Die Grenzen zwischen Bräuchen und Ritualen seien oftmals fließend, so Regina Ries-Preiß. „Doch eine Unterscheidung ist schon möglich: Bräuche sind Traditionen, die in einer Gesellschaft regelmäßig wiederholt werden. Rituale hingegen sind symbolische Handlungen, die eine tiefere spirituelle Bedeutung haben.“

Besonders zu Weihnachten hat vermutlich jede christliche Familie eigene Rituale entwickelt, die „heilige Augenblicke“ entstehen lassen können, sei es beim Besuch der Christmette, beim gemeinsamen Singen und Beten, dem vorweihnachtlichen Plätzchenbacken oder in dem besonderen Moment, wenn zum ersten Mal alle Lichter am Weihnachtsbaum erstrahlen.

Stärkung der Gemeinschaft
Übrigens kam beispielsweise der Weihnachtsbaum erst Ende des 19. Jahrhunderts in Mode. Und damit ein gesellschaftlicher Brauch, den auch Nichtchristen zelebrieren. Man kann zwischen gesellschaftlichen und religiösen Bräuchen sowie individuellen Ritualen unterscheiden, erklärt auch Dieter Frey, Professor für Sozial- und Wirtschaftspsychologie und Leiter des LMU Center for Leadership and People Management. „Sogenannte gesellschaftliche Bräuche sind traditionelle Handlungen, die innerhalb einer Gemeinschaft, Region oder Kultur über einen langen Zeitraum hinweg praktiziert werden“, erläutert er. Sie sind oft mit festlichen oder religiösen Anlässen verbunden und werden zu besonderen Gelegenheiten, wie Geburt, Hochzeit oder Weihnachten oder auch an bestimmten Kalendertagen, gefeiert.

Ihr Zweck für eine Gemeinschaft ist nicht zu unterschätzen. Durch die Pflege gemeinsamer Werte und Traditionen werden soziale Bindungen und das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt. „Menschen sind soziale Wesen. Einsamkeit und Alleinsein machen sie eher traurig oder gar depressiv, und Rituale bringen Menschen zusammen, schaffen ein Wir-Gefühl und Gemeinschaftssinn; man lacht, tanzt, feiert und isst zusammen, und dieses Zusammensein stärkt das Immunsystem und die Seele, weil es zeigt, dass man zusammengehört, dass es eine Gemeinschaft gibt, in der gemeinsame Erfahrungen ausgetauscht werden“, so Frey. Für viele Menschen seien solche Rituale oft Höhepunkte im Tagesablauf und im Leben.

Das trifft auch besonders auf die Familie zu. Das tägliche gemeinsame Abendessen, der Sonntagsbrunch oder das Feiern von Geburtstagen mit Kuchen und Kerzen stärken den Familienzusammenhalt und vermitteln vor allem Kindern Sicherheit und Vertrauen. Gerade für Kinder sind wiederkehrende Gewohnheiten, wie die Gute-Nacht-Geschichte, die den Übergang in den Schlaf erleichtert, oder der Abschiedskuss, der die Trennung von den Eltern einläutet, wichtig. Vertrautes gibt ihnen Orientierung und Beständigkeit. Sie wissen, was als Nächstes passiert. Wenn dann zum Beispiel der Babysitter die gleichen Einschlafrituale ausführt wie Mama und Papa, wird die Abwesenheit der Eltern erträglicher.

Verbindung zu sich selbst
Rituale verbinden Menschen aber nicht nur miteinander, sondern auch mit sich selbst. Jeder hat liebgewonnene Gewohnheiten, auf die er nicht verzichten möchte: der heiße Kaffee oder Tee am Morgen, die Yoga-Übung oder die Joggingrunde nach dem Aufstehen, die Nachrichten am Frühstückstisch oder das Buch vor dem Einschlafen am Abend. „Da jeder Mensch sein eigenes Ritual hat, wie er den Tag beginnt, ihn beendet oder wie bei ihm der Tagesablauf aussieht, spricht man von individuellen Ritualen“, sagt Sozialpsychologe Frey. All das sind regelmäßige Handlungen, die in einer festen Abfolge immer gleich ablaufen. Sie machen einen großen Teil unseres Alltags aus und strukturieren ihn. Rituale sind ein Genuss, dienen der Selbstfürsorge. Das Anzünden einer Kerze beispielsweise ist ein Moment des Innehaltens, Zelebrierens und leitet eine Entspannungsphase ein.

Kraftquellen im Alltag
Im hektischen, oft chaotischen, von Informationen und Reizen überfluteten Alltag sorgen diese bewussten Momente für Sinn und Kontrolle. Ob es sich um alltägliche Rituale wie das wohltuende Heißgetränk am Morgen handelt oder um jahreszeitliche Bräuche wie Weihnachten – wiederkehrende Handlungen bieten mehr als nur Struktur: Sie haben die Kraft, emotional zu stabilisieren. Sie wirken sich positiv auf die Psyche aus, indem sie Orientierung, Geborgenheit und soziale Identität vermitteln. So hilft zum Beispiel das tägliche Schreiben in ein Tagebuch, ein Gefühl von Kontinuität und Sinnhaftigkeit zu bewahren. Das bewusste Zubereiten einer Tasse Tee hat eine beruhigende Wirkung, die durch die ritualisierte Handlung selbst verstärkt wird. Schon das Einlassen eines Bades senkt den Stresspegel. Dagegen löst der Wegfall der vertrauten Abläufe Unbehagen und Stress aus. Das zeigt schon ein Selbstversuch – einmal auf den Kaffee morgens verzichten, und schon breitet sich Unruhe aus, die Laune sinkt.

Der Sinn des Immergleichen
Rituale machen aber nicht nur gute Laune, es gibt auch physiologische Gründe, warum sie so guttun. Studien belegen, dass die immer gleichen Abläufe das Gedächtnis entlasten. Sie vermitteln Ruhe, indem Handlungen nicht jedes Mal neu überlegt werden müssen, sondern automatisch ablaufen. Sei es morgens das tägliche Müsli oder der Gang zur Dusche nach dem Aufwachen. 30 bis 50 Prozent dessen, was wir täglich tun, sind kognitiv passive Wiederholungshandlungen, die durch eine bestimmte Tageszeit, einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Situation ausgelöst werden, haben Wissenschaftler herausgefunden. Diese Routine gewährleistet, dass uns die Vielzahl der täglichen Aufgaben nicht überfordert und wir unsere Energie auf konkrete Entscheidungen konzentrieren können. Das reduziert Stress. Keine Neuerungen, keine Veränderungen, keine Herausforderungen, auf die man reagieren muss – alles ist berechenbar.

Anker in schwierigen Lebenssituationen
Gerade in Krisenzeiten sind Rituale deshalb so wichtig. Sie stärken die Resilienz. Die feste Struktur verleiht das Gefühl von Vorhersehbarkeit und Kontrolle. Das fördert die Selbstwirksamkeit und vermittelt die Gewissheit, das eigene Leben beeinflussen zu können. Auch in schlimmen Zeiten helfe es, zu wissen, wo man einkaufen kann, wen man anrufen kann, wie oft und wann man mit seinen Kindern oder Eltern telefoniert, sagt Frey. Diese Rituale gäben einem letztlich eine Grundsicherheit.

Die Corona-Pandemie zeigte auch, wie emotional belastend es ist, gewohnte Dinge nicht mehr tun zu können. Psychische Erkrankungen nahmen zu. Während der Corona-bedingten Isolation halfen aber auch gemeinschaftliche Rituale, wie virtuelle Feiern oder regelmäßige Videotelefonate, soziale Bindungen zu erhalten oder gar zu festigen. „Rituale sind besonders wichtig in einer Zeit, in der sich viele einsam fühlen“, ist Frey überzeugt. Bei großen Veränderungen im Leben, wie einem Umzug, einer Trennung oder dem Verlust eines geliebten Menschen, bieten Rituale Halt. Sie kompensieren den Kontrollverlust, den Veränderungen oft mit sich bringen, und wirken als Anker, der inmitten von Unsicherheit Stabilität bietet.

Ritualisierte Abläufe, wie es sie bei Trauerfeiern, Hochzeiten, Einschulungen oder Abschlussfeiern gibt, spielen eine wichtige Rolle bei der emotionalen Verarbeitung von Übergängen. Sie strukturieren und schaffen Orientierung im Umbruch, sind wie eine Brücke zwischen der alten und der neuen Situation. Beerdigungsrituale zum Beispiel vermitteln, dass man nicht allein ist, dass man mit anderen zusammen weinen und Erinnerungen austauschen kann.

Rituale im Wandel der Zeit
Virtuelle Treffen oder auch der Ellbogengruß statt Händeschütteln während Corona machten deutlich, dass Rituale mit dem Zeitgeist gehen. Sie spiegeln aktuelle gesellschaftliche und individuelle Entwicklungen wider. Treffen sich beispielsweise die Kinder zu Weihnachten in der Kernfamilie, ändert sich dies oft, wenn sie selbst Eltern werden und ein eigenes Weihnachtsfest feiern. Dann laden sie die Großeltern ein, oder man feiert gemeinsam am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag. Je nach Familienkonstellation geraten damit auch die Rituale automatisch in Bewegung. Die Kunst bestehe nun darin, einerseits die Tradition zu wahren, wie man früher gefeiert hat, und sich gleichzeitig auf die neuen Bedürfnisse als Großeltern oder junge Eltern einzustellen, meint Frey. Und ergänzt: „Auch in schwierigen Zeiten ist es umso wichtiger, Rituale zu feiern und zu sagen: ‚Wir wollen uns durch Krisen – ob Krieg oder hitzige Debatten in der Politik – unsere Lebensqualität nicht nehmen lassen. Umso mehr wollen wir den Tag feiern – den Geburtstag, die Geburt oder Weihnachten‘ – denn das ist auch eine Abkehr vom tristen Alltag.“

Gerade das bevorstehende Weihnachtsfest ermutige dazu, bekräftigt KDFB-Theologin Regina Ries-Preiß. Wenn unzählige Lichter an den Christbäumen leuchten, wird für alle sichtbar: „Gott ist Mensch geworden, und die Geburt des Kindes erleuchtet uns und unser Leben. In der Dunkelheit leuchtet uns ein Licht auf und gibt Hoffnung.“

Katrin Otto und Karin Schott

Lesetipp

Dieter Frey, Hrsg., Psychologie der Rituale und Bräuche, Springer, 2018, 39,99 Euro

Brauch Frauentragen: Maria auf Herbergssuche

In der Adventszeit erwartet Angela Unterburger jedes Jahr hohen Besuch: Für eine Nacht gewährt die KDFB-Frau aus Geisenfeld im oberbayerischen Landkreis Pfaffenhofen der schwangeren Maria in Gestalt einer kleinen Holzfigur Obdach.
Schon am nächsten Tag wird die Figur der Muttergottes weiter auf Herbergssuche gehen und einem anderen Haushalt übergeben, feierlich begrüßt und auch dort einen Ehrenplatz erhalten.„Das sogenannte Frauentragen ist bei uns im Frauenbund schon seit über 35 Jahren ein schöner Brauch in der Adventszeit. Es ist einfach etwas Besonderes, Maria für eine Nacht beherbergen zu dürfen, und es verbindet uns auch untereinander“, so die 60-jährige Mit-Vorsitzende des Zweigvereins.

Auf Wanderschaft geht in Geisenfeld eine geschnitzte schwangere Maria nach dem Vorbild der Muttergottes aus Bogenberg, einem niederbayerischen Wallfahrtsort. Auch für ihre Vorstandskollegin und Hopfenbäuerin Irmgard Beck ist es ein magischer Moment, wenn einen Tag später Maria bei ihr ankommt: „Früher haben wir sie als Figur in einem mit Samt ausgeschlagenen Korb überreicht. Inzwischen tragen wir sie in einem kleinen Glasschrein von Haus zu Haus. Mit dabei ist auch ein Heft mit Gebeten und Texten für eine Hausandacht.“ Ausgesendet wird die Marienfigur am ersten Advent bei einer Feier in der Stadtpfarrkirche Geisenfeld. Sie zieht dann von Haus zu Haus und macht zum Beispiel auch Station im Seniorenheim.
Der christliche Adventsbrauch des Frauen- oder Marientragens ist eine jahrhundertealte Tradition, die vom Frauenbund in den letzten Jahrzehnten an vielen Orten wiederbelebt wurde.

Im Brauch des Frauentragens spiegelt sich die biblische Geschichte der Herbergssuche von Maria und Josef wider und erinnert an die Bedeutung von Gastfreundschaft und Nächstenliebe. Im Zweigverein Gerolfing bei Ingolstadt ist zum Beispiel Hannelore Schmid dafür verantwortlich. „Die Nachfrage zum Frauentragen ist bei uns so groß, dass wir inzwischen acht Darstellungen der Muttergottes aus dem Ingolstädter Münster auf Wanderschaft schicken. Bei mir können sich interessierte Haushalte in die Listen eintragen lassen“, erklärt die 59-jährige Grundschulsekretärin, die schon seit 16 Jahren in der Vorstandschaft ihres Zweigvereins mitwirkt. „Ich finde an diesem Brauch nicht nur das Miteinander so schön, sondern auch, dass das Bildnis einen Weg hat mit einem Ziel: Weihnachten.“

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
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