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Wenn Kinder ausziehen

01.10.2024

Eigentlich läuft alles darauf hinaus: Eltern erziehen ihre Kinder zur Eigenständigkeit. Und dann ziehen sie aus. Das war das Ziel, aber warum fühlt es sich so seltsam an? Weshalb das Loslassen oft schwerfällt und wie es für beide Seiten weitergeht.

Letzte Woche erreichte mich eine WhatsApp: „Mama, weißt du was, das hat geklappt mit der Wohnung bei der Paulina.“ „Ups!“, dachte ich und textete bemüht zurück: „Ah, das freut mich.“ „Ja, so toll, in sechs Wochen dann. Auch traurig natürlich“, antwortete meine Tochter sofort. „Ein neuer Schritt, das wird schon“, sprach ich uns beiden Mut zu, schluckte und ergänzte: „Grade schreib ich drüber“, was meine Tochter mit einem „Ja, lustig“ quittierte. So lustig fand ich es gar nicht. Mir war eher nach Weinen zumute. Mein Sohn riss mich aus meiner sich breitmachenden Traurigkeit: „Krieg ich dann ihr Zimmer?“
Das Leben geht weiter – ganz klar. Es ist normal, dass Kinder ausziehen, ein lange vorhersehbares Ereignis, auf das die ganze Erziehung hinarbeitet. Ist es dann so weit, tut es dennoch weh. Ich begann bereits die Nächte zu zählen, die wir noch gemeinsam unter einem Dach verbringen würden – nach 21 Jahren. Laut Statistischem Bundesamt verlassen Jugendliche ihr Elternhaus im Schnitt mit 24 Jahren. Mädchen früher, mit 23, und Jungen mit
24,5 Jahren. Die Deutschen sind früh dran – der EU-Schnitt liegt bei 26 Jahren.

Jahrelange Abnabelung
Erziehung hat von Beginn an Selbstständigkeit zum Ziel. Kleine Abschiede bereiten einen kontinuierlich darauf vor: der erste Tag in der Krippe, im Kindergarten, die Einschulung, das erste Ferienlager und die geschlossene Zimmertür in der Pubertät. „Die Abnabelung ist ein jahrelanger Prozess und beginnt schon viel früher als mit dem Auszug. Die vielen Auseinandersetzungen und Diskussionen in der Pubertät sind dazu da, dass man sie leichter gehen lassen kann,“ sagt Nathalie Scher-Kahn, Heilpraktikerin für Psychotherapie aus München. „Ihr Auszug war für mich sehr schmerzlich. Mein ,kleines‘ Mädchen muss jetzt allein zurechtkommen, das war für mich ein größeres Problem als für sie“, beschreibt KDFB-Frau Tanja Pfister ihre Erfahrung. Ihre 20-jährige Tochter ist im vergangenen Oktober 500 Kilometer entfernt zum Studieren in den Norden gezogen.

Neuer Alltag
Die Erkenntnis, dass es nie mehr so sein wird, wie es war, kann mit einer Sinnsuche einhergehen. Wo stehe ich im Leben, wo will ich noch hin? Eine Kollegin sagte: „Erst ist man 20 Jahre im Tunnel, dann wird man ausgespuckt.“ Es wird wohl stiller in der Wohnung. Die gemeinsamen Mahlzeiten, die nassen Handtücher am Boden und die eingetrockneten Geschirrstapel auf der Fensterbank, selbst die nervtötende mobile Musikbox und die immer hungrigen Meerschweinchen werde ich vermissen. Es ist nicht nur eine räumliche Trennung, sondern der Alltag ändert sich. „Mir fehlt am meisten unser Austausch und auch mal eine Umarmung; die Gespräche gehen zwar auch über Handy, aber wenn das Kind neben einem sitzt, ist das doch ein großer Unterschied“, sagt Tanja Pfister. Auch sie hat immer sehr viel Wert darauf gelegt, einmal am Tag zusammen zu essen. Jetzt arbeite sie mehr, für sie und ihren Mann, sei es schwieriger geworden, zur gleichen Zeit zu Hause zu sein.

Noch nie standen sich die Generationen so nah wie heute. Veränderte Rollenbilder, gewandelter Erziehungsstil, Jugendwahn und digitaler Wandel stellen Kinder und Eltern auf eine andere Beziehungsebene als in den Generationen zuvor. Der Nachwuchs leiht sich Kleider aus, fährt weiter mit in den Urlaub. So wie meine eigentlich erwachsenen Kinder. Früher waren Eltern schlimm, heute sind sie Buddys; früher gab es keine gemeinsamen Interessen, heute geht man zusammen auf Konzerte. Das macht es nicht leichter. „Übergänge gehören im Leben dazu – ein neuer Abschnitt beginnt“, trösten mich meine Freundinnen. „Erinnere dich, wie schön es war, als du selbst von zu Hause ausgezogen bist. An diese neu gewonnene Freiheit.“ Ja, meine Freundinnen haben recht. Aber: Meine Gefühle sind trotzdem ambivalent. Ein Cocktail aus Trauer, Freude, Stolz und Nostalgie. Auch ich habe nun mehr Freiheit, aber ich fühle mich auch verlassen. Für Kinder bedeutet der Auszug Eigenständigkeit, Abenteuer, Neugier, Hoffnung – für Eltern leere Zimmer, fehlende Bezugspersonen, Einsamkeit. Aber auch neue Möglichkeiten.

Leeres-Nest-Syndrom
„Viele Eltern nehmen den Abschied nicht so leicht. Mütter fallen häufig in ein Loch, reagieren niedergeschlagen und deprimiert, fühlen sich ihrer Lebensaufgabe beraubt“, so Scher-Kahn. Man spricht dann vom Empty-Nest-Syndrom (ENS). Ein Begriff, der in den 1960er-, 1970er-Jahren in den USA von Psycholog*innen geprägt wurde für junge Mütter ohne Berufsausbildung. Betroffene können die gleichen Stressreaktionen aufweisen wie jemand, der einen Menschen durch Tod verloren hat. Laut einer US-Studie haben zehn Prozent der Mütter ENS, die Trauer begleitet sie bis zu zwei Jahre lang. „Mütter mit Kindern im Alter von 20 bis 25 Jahren haben noch sehr oft im traditionellen Rollenbild gelebt. Der Vater ist der Hauptverdiener; die Mutter hat den Haushalt, die Erziehung und den Alltag gestemmt. In dieser Generation ändert sich für den Vater weniger als für die Mutter,“ ergänzt Scher-Kahn.

Den Schmerz sollte man sich trotzdem nicht anmerken lassen. Kinder sollen sich für die Gefühlslage der Eltern nicht verantwortlich fühlen müssen, denn auch sie spüren Verlust und Loslassen, nur zeigen sie es oft nicht. Aber wie schafft man es, die Kinder ziehen zu lassen, ohne ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen? „Gute Frage. Ich freue mich, wenn sie ihr Leben so gut meistert und so erfolgreich ist auf der Uni und glücklich mit ihren Hobbys“, sagt Pfister über ihre Tochter. Die Distanz schafft auch Chancen. Künftig begegnet man sich nicht mehr in den Rollen Mutter, Vater, Kind, sondern auf Augenhöhe. Ohne alltägliche Reibereien wird das Konfliktpotenzial weniger. „Ich schaffe mir Zeit, wenn unsere Tochter nach Hause kommt. Wir genießen die Zeit zusammen intensiver“, so Pfister.

„Wenn die Beziehung zum Kind davor schon stabil und liebevoll war, wird sich daran durch die räumliche Distanz nicht viel ändern. Wenn ich mit mir selbst im Lot bin und mich und meine Bedürfnisse eigenverantwortlich befriedige, dann brauche ich nicht mein Kind, um meine Defizite zu kompensieren. Dann kann ich auch gut loslassen“, ist Scher-Kahn überzeugt. Entscheidend ist die eigene Haltung: Statt „Schade! Ich vermisse dich so sehr“: „Toll, sie ist jetzt selbstständig!“ Das hilft, sich zu distanzieren und dem eigenen Leben zu widmen. „Es macht einen großen Unterschied, ob ich den Auszug meines Kindes als Verlust sehe oder eben auch als Chance auf etwas Neues in meinem Leben“, sagt Beraterin Scher-Kahn.

Wiedergewonnene Freiheit
In einem weiteren Schritt könne der Fokus auf die eigene Zukunft gelegt werden, indem man sich fragt: Wo für kann ich meine frei gewordene Zeit und Energie sinnvoll investieren? So könnten Interessen und Fähigkeiten entdeckt werden. „Wir haben uns gefreut, dass unsere Kinder ihren Weg gehen und haben sie wo immer möglich unterstützt“, erzählt KDFB-Frau Dorothea Holzer. Sie müsse keine Entscheidungen für ihre Kinder mehr treffen. Ihre Kinder sind 47, 45 und bald 43 Jahre alt. Alle drei gingen zum Studium in eine andere Stadt. Als die Kinder flügge wurden, machte sie neben ihrer Teilzeitarbeit mehr Sport, ging zum Walken, spielte mit ihrem Mann Tennis und verstärkte ihr Engagement für den Frauenbund. Auch KDFB-Frau Tanja Pfister engagiert sich im Frauenbund und in anderen Ehrenämtern. „Da kann ich jetzt noch mehr Zeit investieren“, sagt sie, und weiter: „Meine dazugewonnene Freizeit kann ich jetzt auch mal zum Lesen nutzen.“ Ehrenamt, Sport, Weiterbildung, Reisen – für all diese Aktivitäten ist jetzt mehr Raum.

Mir geht die Reaktion meines Sohnes durch den Kopf. Ein Zimmer mehr. Gar nicht so schlecht eigentlich. Und keine morgendliche Schlange mehr vor dem einzigen Bad. Und weniger Absprachen, wer wann zu Hause ist. Verspüre ich da ein bisschen Erleichterung? Und hat nicht alles gut geklappt? Eine junge Erwachsene, die in die Welt hinauszieht; alles richtig gemacht. Dazu noch in die Wohnung der besten Freundin. Und gar nicht so weit entfernt, nur einmal über die Isar.

Partnerschaft im Fokus
Die Lücke, die sich auftut, lenkt die Aufmerksamkeit bei vielen auf die Partnerschaft. Nach 20 Jahren Fokus auf die Kinder ist man auf einmal auf den Partner und die Zweierbeziehung zurückgeworfen. Man fragt sich: Wer ist denn dieser Mensch, der hier noch wohnt, finde ich den noch interessant? Eine Freundin und Mutter von vier Söhnen vertraute mir an, dass sie nach so vielen Jahren Alltag mit Kindern gar nicht mehr wüsste, was sie mit ihrem Mann reden soll. „Eine Paarbeziehung kann beim Auszug der Kinder auch in Schieflage geraten, wenn der Fokus des Paares auf der Rolle als Eltern lag und die Beziehung als Liebespaar vor dem Auszug der Kinder bereits vernachlässigt wurde“, sagt Scher-Kahn. Laut Studien trennen sich Paare häufig nach der Geburt eines Kindes oder nach dem Auszug der Kinder. Manchmal wurde eine Trennung auch nur der Kinder wegen aufgeschoben. Wenn dann die Funktion des Paares als Eltern wegfällt, ist oft von der Paarbeziehung nicht mehr viel übrig.

Die neue Situation kann aber nach anfänglicher Umstellung auch positiv sein, ein neuer Rhythmus stellt sich ein, man hat wieder mehr Zeit als Paar füreinander, kann gemeinsame Interessen pflegen, den Partner neu entdecken. „Wir haben schon immer auch eine gute Partnerschaft gelebt, klar haben wir auch viel Rücksicht auf die Bedürfnisse unserer Tochter genommen, aber wir haben das, glaube ich schon immer recht gut hinbekommen“, sagt Tanja Pfister. Idealerweise nehmen sich Paare schon Zeit füreinander, wenn die Kinder noch zu Hause wohnen; dann erleben sie sich nicht nur als Eltern, sondern auch als Partner und eigenständige Persönlichkeiten. „Eltern sollten nicht warten, bis das Nest leer geworden ist, sondern rechtzeitig überlegen und miteinander die Zukunft als Paar und nicht nur als Eltern gestalten. Gibt es gemeinsame Interessen außerhalb der Kindererziehung? Ein gemeinsames Hobby? Ein Blick zurück auf die Zeit zu zweit, als man noch nicht Eltern war, ist auch hilfreich, um sich daran zu erinnern, was man aneinander attraktiv gefunden hat“, empfiehlt Scher-Kahn.

Mutter auf Distanz
Wenn Kinder das Elternhaus verlassen, verlassen sie nicht die Eltern. Räumliche Entfernung bedeutet nicht innere Distanz. Statt sich täglich zu sehen, gibt es künftig Besuche zu Weihnachten und an Geburtstagen. „Wir schreiben uns mehrmals täglich auf WhatsApp. Ein ,Guten Morgen‘ ist mir sehr wichtig, das weiß sie auch. Einmal die Woche telefonieren wir mit Video, ansonsten wenn was Wichtiges passiert auch mal öfter. Wir sehen uns in Anbetracht der Entfernung eigentlich relativ oft. Sie kommt so alle sechs Wochen, wenn es ihre Zeit erlaubt, nach Hause. Ich war auch schon ein paar Tage bei ihr, und wir fahren auch zusammen in den Urlaub“, berichtet Pfister. Ähnlich ist es bei Holzer: „Unser erster Sohn kam anfangs noch jedes Wochenende nach Hause mit seinem Wäscheberg, oder wir besuchten ihn in Passau. Heute haben wir per WhatsApp-Videotelefonie alle paar Tage Kontakt. Auch mit den anderen Kindern halten wir intensiven Kontakt per Telefon. Und alle kommen gern nach Hause“. Beim ersten Enkelkind sei sie wöchentlich nach München gefahren, um einen guten Kontakt aufzubauen. Heute seien die Enkel gern in den Ferien bei den Großeltern.

Die Verbindung zu halten und gleichzeitig loszulassen, ist für beide Seiten schwierig. „In der neuen Rolle sollten Mütter, respektive Eltern, ihren Kindern vermitteln, dass sie immer für sie da sind. Wenn ein Kind das Gefühl hat: ,Ich habe ein Zuhause und liebende Eltern, die für mich da sind,‘ ist das das Fundament einer gesunden Beziehung“, so Scher-Kahn. Die neue Mutterrolle bestehe nicht mehr darin, für die Grundbedürfnisse der Kinder zu sorgen, sondern die Mutter sei dann eher Ratgeberin, Retterin in Not, Schulter zum Ausweinen, Geldgeberin und Begleiterin ins Erwachsenenleben. Klar ist, Eltern bleiben Eltern, Kinder Kinder. Ein Leben lang. Der Auszug meiner Tochter ist nicht nur ein Ende, sondern auch der Anfang von etwas Neuem – für uns beide. Und darauf freue ich mich.

Katrin Otto

 

Das sagen die Jugendlichen

Wie hat sich der Auszug angefühlt?
Paulina (21), Konditorinnenlehre: Am Anfang war es ganz schön, aber auch ein bisschen beängstigend, zumal ich nicht in eine WG, sondern alleine in eine Wohnung gezogen bin. Zunächst war es sehr befreiend, weil ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Alleine einen Haushalt zu führen – Einkaufen, Putzen, Kochen, Pflanzen am Leben erhalten, Wäsche waschen –, habe ich aber unterschätzt. Manchmal überfordert mich das jetzt noch, weil man die Arbeiten nicht aufteilen kann, wie in einer WG oder in der Familie. Aber insgesamt hat sich dieser Schritt ins Erwachsenenleben schon sehr toll angefühlt.
Allegra (21), Studentin: Einerseits war es sehr schön und spannend, auf eigenen Beinen zu stehen – andererseits war der Gedanke, ab jetzt so viel weniger Zeit mit den Eltern zu verbringen, auch traurig. Beim Abschied hat man noch mal gemerkt, wie wichtig man einander ist und dass man sich freut, sich bald wiederzusehen.

Hat sich das Verhältnis zu den Eltern geändert?
Paulina: Ja, auf jeden Fall. Dadurch, dass man sich nicht mehr jeden Tag sieht. Wenn ich meine Eltern treffe, verbringen wir viel aktiver Zeit miteinander und unterhalten uns richtig, nicht nur über Haushaltsaufgaben. Vor allem mit meinem Papa habe ich vorher nicht so intensiv Zeit verbracht wie jetzt. Ich verabrede mich oft mit meinen Eltern einzeln, was ich vorher selten gemacht habe, weil ich sie meistens mit Geschwistern „teilen“ musste. Mit meiner Mama schreibe oder telefoniere ich fast täglich – manchmal nur kurz, um auszutauschen wie es uns geht – auch länger, wenn ich ihren Rat brauche.
Allegra: Ich denke ja, aber das liegt auch daran, dass ich mich weiterentwickelt habe, unabhängig vom Ausziehen. Wir unterhalten uns jetzt mehr auf Augenhöhe und dadurch, dass wir nur noch wenig Alltag zusammen haben, schätzen wir die gemeinsame Zeit umso mehr.

Habt ihr manchmal ein schlechtes Gewissen?
Paulina: Eigentlich nicht, weil meine Eltern sehr beschäftigt sind; sie arbeiten beide viel, und mein kleiner Bruder wohnt noch zu Hause. Meine Eltern machen mir nie Druck, dass ich sie mal wieder besuchen muss oder zu selten sehe. Eigentlich denke ich manchmal andersrum, dass ich schon lange nicht mehr bei ihnen war. Meinem kleinen Bruder gegenüber habe ich ein bisschen schlechtes Gewissen, weil meine Schwester und ich gleichzeitig ausgezogen sind und er von einem Tag auf den anderen alleine mit meinen Eltern war und ich es manchmal schade finde, nicht mitzubekommen, wie er heranwächst.
Allegra: Ja, teilweise. Wenn ich in München bin, freue ich mich immer sehr, meine Eltern zu sehen, aber ich will auch viel mit meinen Freundinnen machen. Meine Eltern erwarten jedoch, dass ich möglichst viel Zeit mit ihnen verbringe.

 

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
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