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Tuğba Tekkal: Von der Profifußballerin zur Menschenrechtsaktivistin

01.06.2024

Die ehemalige Profifußballerin Tuğba Tekkal gründete den Verein Háwar.help, um Flüchtlinge aus dem Irak zu unterstützen. Die 39-Jährige ist Jesidin, kurdischer Abstammung und in Hannover geboren. 2016 startete Tuğba Tekkal das Sportprojekt Scoring Girls*, das die Teilhabe und das Selbstbewusstsein von benachteiligten Mädchen stärken soll, unabhängig von Herkunft und Religion.         Von Katrin Otto

Frau Tekkal, Sie sind eine bekannte Fußballerin und Aktivistin für Frauenrechte. Gab es einen Impuls – von der Profifußballerin zur Menschenrechtlerin?

Das wurde mir eigentlich schon in die Wiege gelegt. Mein Vater war immer für Menschenrechte und unsere Glaubensgemeinschaft der Jesiden sehr politisch engagiert und viel in Geflüchtetenunterkünften unterwegs. Ich habe zehn Geschwister, und wir hatten nur eine Vierzimmerwohnung und trotzdem immer Gäste, die übernachtet oder in anderer Form Hilfe bekommen haben. Als ich dann Bundesligaspielerin beim 1. FC Köln war und 2014 der Islamische Staat im Norden des Irak einmarschierte und einen Völkermord an meiner Religionsgemeinschaft beging, haben meine Schwestern und ich die Menschenrechtsorganisation Háwar.help gegründet. Mittlerweile gibt es zehn Standorte in Köln, Berlin und im Irak.

Wie verbinden Sie die Leidenschaft für den Sport mit dem Engagement für Frauen?

Als ich das erste Mal auf einem Fußballfeld stand, wusste ich, das ist ein Gefühl, das ist viel größer als ich. Fußball hat mir sehr viel gegeben. Das wollte ich weitergeben. Ich bin mit meinen Autogrammkarten in Flüchtlingsunterkünfte, Jugendzentren und Jugendämter und habe Fußballtraining für Mädchen angeboten. Mir ging es darum, die Mädchen aus dem Unterkunftsalltag rauszuholen, aber auch deutsche Mädchen, die keine finanziellen Mittel für Vereinssport hatten, zu erreichen. Beim ersten Trainingstag kamen sofort
30 Mädchen. Denen ging es gar nicht so sehr um Fußball, sondern vor allem darum, dass sie einen Ort gefunden hatten, wo sie sie selber sein konnten. Da habe ich gemerkt, was die mir entgegenbringen, ist so viel mehr als alles, was ich bisher erlebt habe. Eigentlich hatte ich plötzlich die Rolle einer Sozialarbeiterin: Ich war mit bei den Eltern, mit in Ämtern, habe in Schulen mit den Lehrern gesprochen.

„Fußball hat mir sehr viel gegeben. Das wollte ich weitergeben.“

Warum setzen Sie sich besonders für Mädchen ein?

Es geht uns vor allem um eine werteorientierte Bildung. Unserem Team ist es gelungen, einen Ort zu schaffen, wo die Welt in Ordnung und jedes Mädchen willkommen ist. Fußball ist der Türöffner. Aber wir begleiten die Mädchen nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz. Wir wollen ihr Selbstbewusstsein stärken und ihnen Perspektiven aufzeigen. Das geschieht auch über weibliche, starke Vorbilder. Unsere ehemalige Bundeskanzlerin war schon da, Anne Will ist Schirmherrin. Die Mädchen sollen erkennen: Ich kann alles erreichen.

Sie selbst stammen aus einer kurdisch-jesidischen Familie. Welche Rolle spielt Ihre eigene Geschichte?

Natürlich bin ich geprägt von meiner ganz persönlichen Geschichte. Ich bin in Hannover mit zehn Geschwistern aufgewachsen, in den 1990er-Jahren. Das war alles andere als einfach. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Vereinssport auch mich meint. Ich dachte, dass ganz viele Türen für mich verschlossen sind. Wenn ich die kleine Tuğba vor mir sehe, die von einer Lehrerin gesagt bekommt, du wirst es niemals zu etwas bringen, du wirst genauso Putzfrau werden wie deine Mutter, bin ich glücklich, dass ich heute andere Mädchen stärken kann.

Ist Ihnen das tatsächlich so passiert?

Das war mit elf, zwölf Jahren in der Orientierungsstufe, da wurde ich rauszitiert, und die Lehrerin hat es mir genauso ins Gesicht gesagt. Es gab natürlich auch tolle Lehrer. Aber eben auch solche, die derartige Behauptungen äußerten, von denen man in dem Alter glaubt, dass sie stimmen. Dass man es nicht wert, nicht dazu gemacht ist, etwas zu erreichen.

Wie haben Sie trotzdem den Glauben an sich bewahrt?

Dieser Satz begleitete mich mein Leben lang. Natürlich bin ich erst mal auf die Toilette gerannt und habe geweint, guckte in den Spiegel und dachte, vielleicht hat sie recht. Schließlich half mir zum einen der Fußball, für diesen Sport entwickelte ich eine Leidenschaft und war richtig gut darin. Zum anderen aber auch die Menschen, die an mich glaubten. Trotzdem fiel es mir viele Jahre schwer, diese vergifteten Glaubenssätze loszuwerden, sie aus dem Kopf zu löschen. Aber es gab am Ende mehr Menschen, die an mich geglaubt haben, als andersherum. Und das ist wichtig. Wenn ich heute die Mädchen auf dem Platz sehe, wie ihre Augen leuchten, wie sie sich freuen, dann möchte ich die Person für sie sein, die an sie glaubt. Ich möchte nicht, dass sie vor denselben Hürden stehen wie ich damals. Darum versuche ich, alles daranzusetzen, es diesen Mädchen so einfach wie möglich zu machen. Jeder hat das Recht, Teil dieser Gesellschaft zu sein, und keiner soll sich weniger wert fühlen, schon gar nicht junge Frauen. Wenn diese Mädchen früher auf dem Schulhof blöde Sprüche zu hören bekamen, weil sie bei den Jungs Fußball mitspielen wollten, und sich davon abschrecken ließen, dann trauen sie sich jetzt zu widersprechen und sich am Spiel zu beteiligen.

Haben Sie denn als Spielerin blöde Sprüche gehört?

Ich war damals das einzige Mädchen, das Interesse hatte, Fußball zu spielen wie meine Brüder. Dann kamen natürlich Sprüche wie „wir wollen dir nicht wehtun, du bist zu zart“. Daraufhin habe ich mich verhalten und gekleidet wie ein Junge, um dazuzugehören. Die weibliche Tuğba traute ich mich nicht mehr zu sein. Diese Form der Anpassung tat mir nicht gut. Deshalb war ich froh, als ich mit 16 Jahren in einem Verein spielte, in dem nur Mädchen und junge Frauen waren. Da konnte ich mich ganz anders entwickeln und so sein, wie ich wollte, ohne das Gefühl zu haben, eine Rolle spielen zu müssen, um dazuzugehören. Deshalb versuchen wir bei den Scoring Girls* Mädchen zusammenzubringen. So, dass die deutsche Akademikertochter mit dem syrischen Flüchtlingsmädchen Eis essen geht. Wenn dann Mädchen, die anfangs sagten, ihr Berufsziel sei Arzthelferin, später Ärztin werden wollen, zeigt das, dass sie gelernt haben, an sich zu glauben und wir vieles richtig gemacht haben.

„Wir wollen Selbstbewusstsein stärken und Perspektiven aufzeigen“

Wie hat Ihre Familie auf Ihre Leidenschaft reagiert?

Meine Eltern konnten nicht verstehen, warum ich als junges Mädchen Fußball spielte. Sie haben es nicht gern gesehen, dass ich mit Jungs den ganzen Tag auf dem Bolzplatz verbrachte. Ich bin zwar liberal großgeworden, aber gleichzeitig wurden Unterschiede zwischen Töchtern und Söhnen gemacht. Wir waren aber sieben Mädchen und vier Jungs, waren also in der Überzahl und hatten mehr Power. Mein Vater war sehr cool, meine Mutter hat sich mehr gesorgt, was die Nachbarn denken. Meine Eltern mussten sich oft dafür rechtfertigen, dass ich Fußball spielte. Schließlich verboten sie es mir, um nicht mehr Rede und Antwort stehen zu müssen. Ich spielte dann viele Jahre heimlich mit der Unterstützung meiner Brüder. Die haben meine Sportsachen versteckt und sie, wenn sie schmutzig waren, unter ihre Dreckwäsche gemischt und mich im Verein angemeldet.

Und das hat niemand gemerkt?

Als ich erfolgreicher wurde und in der Zeitung stand, sagte ich es meinen Eltern. Sie merkten, dass ich nicht mehr das schüchterne, introvertierte Mädchen, sondern viel offener war. Ich war besser in der Schule, hatte mehr Freunde, bin mehr ausgegangen, saß nicht mehr vorm Fernseher. Das gefiel meinen Eltern, und sie erlaubten mir weiterzuspielen. Das war das schönste Gefühl für mich. Weil ich erkannte, dass ich all die Bestätigung und den Erfolg, die ich hatte, auch auf andere Bereiche übertragen konnte, auf Schule und Alltag. Deshalb bin ich von der integrativen Kraft des Sports so überzeugt. Und deshalb war es mir auch so wichtig, die Scoring Girls* ins Leben zu rufen. Wir merken, dass wir damit auch das Mindset der Eltern verändern und ihnen ihre Bedenken nehmen.

Hilft Ihnen dabei, dass der Frauenfußball populärer wird?

Natürlich ist noch viel aufzuholen, aber die Sichtbarkeit, die es inzwischen gibt, spielt uns in die Karten. Ich war mit drei Mädchen zur Frauen-Europameisterschaft in London. Eine Spielerin der deutschen Nationalmannschaft war schwarz, und da fing eines meiner Mädchen an zu weinen und sagte: „Die sieht aus wie ich.“ Man darf die Vorbildfunktion von Frauen, die es geschafft haben, nicht unterschätzen. Aber auch das Fernsehen spielt eine ganz große Rolle. Mit der Anerkennung und Wertschätzung, die durch die TV-Übertragung stattfindet, kann man Eltern überzeugen. Genauso kann mit der Signalkraft meiner Geschichte eine Autogrammkarte von mir, obwohl nur ein Stück Papier, zum Umdenken bewegen. Der Frauenfußball ist geprägt vom Kampf um Anerkennung und Sichtbarkeit.

„Man darf die Vorbildfunktion von Frauen, die es geschafft haben, nicht unterschätzen.“

Mussten Sie kämpfen, um als Fußballerin ernst genommen zu werden?

Anfangs reagierten 99 Prozent eher mit einem Schmunzeln oder Lächeln. Das war zu meiner Zeit einfach so. In den letzten fünf bis zehn Jahren fand ein Riesensprung durch die Bundesliga-Ausstrahlung statt. Mit mir gibt es kein einziges Spiel im Fernsehen zu sehen. Ich freue mich, dass inzwischen die Wertschätzung stattfindet, die wir Fußballerinnen verdient haben.

Ärgert es Sie, dass Spielerinnen schlechter bezahlt sind als Spieler? Männliche EM-Sieger bekamen bereits in den 1970er-Jahren Prämien, während Frauen 1989 noch ein Kaffeeservice erhielten.

Auf Verbandsebene bin ich für gleiche Bezahlung von Männern und Frauen. Auf Vereinsebene kursiert das Argument, dass der Männerfußball mehr abwirft, da zum Beispiel mehr Trikots verkauft werden. Doch darüber lässt sich streiten. Mittlerweile gibt es nämlich Sponsoren, die nur in Frauenfußball investieren, wie zum Beispiel die Deutsche Telekom beim 1. FC Köln. Das ist ein schönes Gefühl. Ich finde es gut, dass Vereine Mädchen so fördern, dass sie neben dem Fußball nicht noch Geld verdienen müssen. Ich musste wöchentlich 40 Stunden als Sport- und Fitnesskauffrau arbeiten, bin abends zum Training und hatte sonntags Auswärtsspiele, von denen ich erst um drei Uhr nachts nach Hause zurückkehrte, um am nächsten Morgen wieder um sechs aufzustehen und zur Arbeit zu gehen.

Sie haben 2017 nach 15 Jahren den Profisport verlassen. Gab es einen Auslöser?

Tatsächlich lag es an der Arbeit für Háwar.help. Ich wurde der Fußballspielerin Tuğba nicht mehr gerecht, weil ich mich um so viel anderes kümmern musste: der Völkermord an meiner eigenen Religionsgemeinschaft, 2 000 Kilometer entfernt, für den sich niemand interessierte; die ganzen Mädchen, die geflüchtet sind, die Mädchen, die hier geboren sind und keine Perspektive haben – mir war viel wichtiger, ihnen eine Zukunft zu geben. In dem Moment, wo man nicht mehr 100 Prozent dabei ist, muss man eine Entscheidung treffen. Sie fiel mir nicht zu schwer, weil es keine Entscheidung gegen den Fußball war, ich spielte ja weiter mit den Mädchen. Dennoch verließ ich den Profisport nach so vielen Jahren mit einem weinenden und einem lachenden Auge.

Was fasziniert Sie eigentlich an Fußball?

Ich war sehr jung bei der WM 1990, fünf Jahre alt. Aber ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Eltern die deutsche Fahne aus dem Fenster hielten. Ich hatte damals den Eindruck, dass die ganze Straße, in der ich wohnte, Deutschland war. Die Kraft eines Sports, so viele Nationen und Leute zusammenzubringen – wie sich alle in den Armen lagen, der türkische Gemüsehändler, mein kurdischer Vater, der deutsche Bäcker, und sich dermaßen freuten – das fand ich faszinierend. Dann habe ich auf dem Bolzplatz Jungs beobachtet und dieses Selbstbewusstsein und dieses „Brust raus“-Gefühl von ihnen wahrgenommen. Das wollte ich auch haben. Als ich dann endlich mitspielen durfte, spürte ich das auch. Meine Eltern sagten immer: „Mach keine Unterschiede, Mensch ist Mensch, geh in die Verbindung.“ Es geht darum, die positive Macht der Begegnung zu nutzen, unterschiedliche Menschen zusammenzubringen, gerade in Zeiten von Digitalisierung und Social Media, wo die meisten nicht mehr miteinander in persönlichen Kontakt treten. Die Begegnung aber ist ein ganz wichtiger Wert unserer Gesellschaft.

 

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