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Sprechen wir über Sex

01.08.2024

Sexualität ist der Angelpunkt der Frauenfrage. Aber sexuelle Selbstermächtigung kennen viele Frauen nicht. Der Schlüssel liegt in der Wertschätzung des eigenen Körpers und der Kommunikation der eigenen Bedürfnisse. Wie gelingt das im täglichen (Paar-)Leben und in jedem Alter?

Zitroneneis oder ein Glas Rotwein? Was magst du am liebsten? Niemand hat ein Problem damit, auf diese Frage zu antworten. Lautet sie aber: Wie oft die Woche hast du Sex und magst du es lieber wild oder zärtlich, verstummen die meisten und schauen befangen zu Boden. Sexualität ist ein Tabuthema, obwohl sie ebenso ein Grundbedürfnis ist wie Essen und Trinken. Warum ist das so, und warum ist es so schwierig, die eigenen Bedürfnisse zu äußern oder überhaupt wahrzunehmen? „Sexualität ist etwas sehr Intimes, kaum jemand hat hier gute Bildung genossen, man tut, was man glaubt zu müssen oder was Pornografie vorgibt. Das hat oft wenig mit den eigenen Wünschen zu tun. Viele Menschen haben wenig sexuelle Selbstsicherheit“, sagt Sexualberaterin und Coach Nicole Siller. Oft lägen Angst und Scham „mit im Bett“. Was darf frau und was nicht, fragen sich viele Frauen und üben sich eher in Zurückhaltung. Resultat: Sie gibt, er nimmt.

Lebenslange Entwicklung
Der Mensch ist ein sexuelles Wesen. „Schon bei Babys im Mutterleib kann im Ultraschall die Stimulation der Genitalien beobachtet werden“, erläutert Pastoralreferentin und Sexualberaterin Theresia Härtel. Beim Sex geht es nicht nur um Fortpflanzung, sondern um Lust und Befriedigung, um Körperwohlgefühl, genauso wie um Nähe und Vertrauen. Eigentlich eine Ressource, denn Sex fördert das Selbstwertgefühl, baut Stress ab und festigt durch die Ausschüttung des Hormons Oxytocin emotionale Bindungen. Regelmäßiger Sex stärkt sogar das Herz-Kreislauf- und das Immunsystem.

In der Jugend geht es darum, sich auszuprobieren und auszutoben, Sexualität dient der Selbstbestätigung. Später in einer Partnerschaft entsteht oft ein Kinderwunsch, Sexualität ist auf Fortpflanzung fokussiert. Ist die Familiengründung abgeschlossen, entwickelt sich Sexualität – im besten Fall – zum Ausdruck von Zugehörigkeit und Nähe. Es ist von der Pubertät bis ins hohe Alter ein lebenslanger Weg der Selbstentdeckung und Anpassung mit verschiedenen Herausforderungen. „Sexualität verändert sich ein ganzes Leben lang so wie unser Körper, unsere Bedürfnisse und unser Geist. Oft werden die Bedürfnisse mit den Jahren authentischer, echter, manchmal sanfter oder auch freier, weil der Selbstwert gesund gewachsen ist, keine Schwangerschaft mehr passieren kann, es ,nur noch‘ um Genuss gehen darf“, erklärt Siller.

Was ist schon normal?
Die meisten Deutschen haben zwischen vier und fünf Mal im Monat Geschlechtsverkehr, so die bundesweite Gesid-Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf zu Gesundheit und Sexualität in Deutschland (siehe Seite 59). Den meisten Sex haben Menschen in festen Beziehungen. Frauen sind zwischen 26 und 35 Jahren am häufigsten sexuell aktiv. Das ist der statistische Wert. Kaum liest man die Zahlen, beginnen die Gedanken zu kreisen: „Huch, so oft?“ – oder auch: „Zum Glück, nicht öfter!“ – „Bin ich normal?“ Hier könnte man antworten: „Alles darf, nichts muss.“ In der Praxis des Beziehungslebens ist die Toleranz aber oft nicht so groß.

„Viele denken, sie können die Beziehung nur halten, wenn sie Sex zur Verfügung stellen“, weiß Ärztin und Therapeutin Melanie Büttner. „Wenn sich die Bedürfnisse der Partner stark unterscheiden, entsteht Leidensdruck. Unterschiede im Begehren oder in der Vorstellung von Sexualität sind die häufigsten Probleme im sexuellen Beziehungsleben“, berichtet die Sexualtherapeutin. Die größte Gefahr für sexuelles Desinteresse am Partner bestehe in einer Langzeitbeziehung. Tatsächlich nimmt die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs nach drei bis fünf Jahren Beziehungsdauer ab. Dazu komme ein hoher Selbstoptimierungsdruck, die Idee, sexuell etwas leisten zu müssen, so Büttner. Das liegt nicht zuletzt am zunehmenden Pornokonsum, der aufgrund der freien Verbreitung immer früher anfängt. „Die Menschen sind heute ‚overscripted‘, sie glauben, mediale Drehbücher erfüllen zu müssen“, sagt sie. Wie gelingt es da überhaupt noch, Sexualität, frei von Zwängen in jeder Altersphase und im Einklang mit sich selbst zu leben?

Der Druck fängt in der Pubertät an

Ab etwa zwölf Jahren kommen die Sexualhormone ins Spiel, und sexuelle Gefühle werden bewusst wahrgenommen. Das führt zu emotionalen Unsicherheiten und Fragen. „Ein Schloss, in das jeder Schlüssel passt, ist ein schlechtes Schloss. Ein Schlüssel, der in jedes Schloss passt, ist ein guter Schlüssel“, witzelt der 17-jährige Teo. Was als Spaß gemeint ist, spiegelt die Haltung von vielen Jugendlichen wider: Jungs dürfen sich ausprobieren, Mädchen aber nicht. Das suggerieren auch die Medien. „Schade ist, dass häufig Jugendliche schon Bilder im Kopf haben, bevor noch eigene Bedürfnisse, Wünsche und Fantasien entstehen können. Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen gesundem Körperbewusstsein und dem Drang, sich in den sozialen Medien zu präsentieren. Allerdings wird, wer mehr von sich preisgibt, auch öfter beurteilt. Das fördert meist kein gesundes Selbstgefühl“, stellt Siller fest.

Jugendliche sehen mit 13 Jahren ihren ersten Porno – lange vor dem ersten Geschlechtsverkehr, der bei den meisten mit 15 oder 16 Jahren stattfindet. „Das ist eine sehr einseitige Prägung von Sexualität, wie Science-Fiction“, so Büttner. Die Jungs denken, Mädchen wollen das so, und die Mädchen denken, das wird so erwartet. Wichtig sei es deshalb, mit den Jugendlichen über den Medienkonsum zu sprechen, ihre Meinung zu respektieren und liebevoll zu lenken. Der Pornokonsum ist anregend bis verstörend. „Mythen und stereotype Bilder treffen auf junge Menschen, da braucht es einfühlsame Aufklärung“, sagt sie. Da in Pornos meist männliches Dominanzverhalten propagiert wird, sei es besonders wichtig, Mädchen mitzugeben, dass sie in der Sexualität nicht die nur gebende Rolle haben, sondern auch viel Genuss bekommen, dass sie wissen, sie müssen einerseits nichts tun, nicht mitmachen, wenn sie etwas nicht wollen. Andererseits sollten sie auch auf die liebevollen, schönen Seiten der Sexualität hingewiesen werden“, rät Siller. „Dies gilt im Übrigen auch für Erziehende von Jungs“, fügt sie hinzu.

Die Begleitung fängt schon in der Kindheit an. Damit Kinder lernen, ihre Bedürfnisse und Gefühle von klein auf zu äußern, eine Idee bekommen von einvernehmlichen Beziehungen und wissen, wann sie Nein sagen müssen. Wichtig sei es auch, Namen zu geben für „das da unten“. „Keine Worte zu haben, löst Schamgefühle aus. Wenn ich vom Storch erzähle, habe ich eine Chance vertan“, so Büttner. Stattdessen empfiehlt sie, die Beziehung zu stärken, sodass das Kind alles fragen kann und sich seine Informationen nicht woanders holt. „Je mehr ich über Körper und Gefühle Bescheid weiß, umso leichter kann ich erkennen, was falsch ist“, ist sie überzeugt.

Aufklärung braucht es auch bei der Verhütung. Es gibt immer noch das Klischee, das ist Frauensache. Mädchen gehen zur Gynäkologin und bekommen die Pille, das ist am einfachsten. Geschlechtergerechtigkeit ist ein Fremdwort. Der Einfluss patriarchaler Strukturen in Kirche und Gesellschaft sei maßgeblich verantwortlich für dieses Phänomen. „Es lohnt sich, diese aufzuzeigen, die Ungleichmäßigkeit hervorzuheben und nicht müde zu werden, insbesondere auch männlich gelesene Personen mit ins Boot zu holen, wenn es um feministische Aufklärungsarbeit geht“, so Härtel. „Die sexuelle Bildung nicht allein in den Kontext des Biologieunterrichts zu stellen, sondern auch außerschulisch Beratungsstellen zur sexuellen Aufklärung und Verhütung für männliche und weibliche Heranwachsende anzubieten, könnte diesbezüglich einen Fortschritt bedeuten“, regt Pastoralreferentin Härtel an. Entsprechend unerlässlich sei zudem, dass Mütter ihren Söhnen mitgeben, wie wichtig es ist, auch selbst Verantwortung in puncto Verhütung zu übernehmen.

Herausforderung Mutterschaft

Ups! Schon wieder eine Woche ohne Sex. Aber diese Müdigkeit jeden Abend. – Das kommt vielen jungen Müttern bekannt vor. Während der Schwangerschaft erlebt der weibliche Körper tiefgreifende Veränderungen. Hormonelle Schwankungen und ein anderes Selbstbild sowie ein emotionales Auf und Ab beeinflussen die Sexualität. Dann kommt das große Ereignis der Geburt – jede dritte bis fünfte Frau erlebt die Niederkunft als traumatisch und emotional belastend. Danach warten neue Herausforderungen wie Zeit- und Energiekonflikte zwischen Mutterschaft und sexueller Intimität. Paare müssen sich neu finden, Aufgaben anders verteilen, da sei Sexualität oft kein Thema und die Lust weg, sagt Büttner. Die Frage, wann darf ich wieder Sex haben, stelle sich oft eher aus dem Druck, funktionieren zu müssen.

Tatsächlich hat die Hälfte aller Frauen mit sexuellen Schwierigkeiten nach der Geburt zu kämpfen – auch noch nach sechs bis zwölf Monaten. Zudem sei für viele junge Mütter das Bedürfnis, mal ganz für sich zu sein, größer, als sich lustvoll in Umarmungen mit dem Partner fallen zu lassen, beobachtet Siller. Es helfe schon mal, wenn Papas bereit seien, sich merklich einzubringen, dann könne frau auch wieder Frau sein und nicht nur Mutter, das stärke die Beziehung und den Eros, ist sie überzeugt. Und: „Es ist essenziell wichtig, miteinander zu sprechen, einander zu erzählen, wie es einem geht, um so klarzumachen: ,Ich habe nichts gegen dich, aber ich brauche einfach Zeiten nur für mich.‘ Gut ist es, wenn man sich als Paar immer wieder bewusst Zeit-Räume gestaltet, in denen Begegnungen als erwachsene Individuen möglich sind und nicht als Mama und Papa. Das muss noch lange nichts mit Sex zu tun haben, festigt jedoch die Beziehung“, empfiehlt Siller.

Büttner nennt das „Zwischenbilanz“, ein wichtiges Werkzeug der Sexualtherapie: Jeder überlegt für sich, was ist für mich jetzt stimmig, was hat sich überlebt, was macht mir Freude, was nicht, was ist meine Fantasie, was brauche ich? Druck entstehe durch die Vorstellung, Sex sei nur dann gut, wenn er erregend ist, orgiastisch und genital. Wichtige Voraussetzung sei, einen Wohlfühlrahmen zu schaffen, um sich entspannen zu können. Vielen fällt es nämlich nicht leicht, aus dem Workflow auszusteigen, den Kopf abzuschalten und in den Körper zu kommen. Auch hier ist es entscheidend, den Erwartungsdruck rauszunehmen. Intime Zeit kann man auf vielfältige Weise miteinander verbringen; um die Nähe des Partners zu spüren, genügt es beispielsweise auch, sich einfach nur nackt aneinanderzuschmiegen. „Sex ist viel mehr als Penetration und Orgasmus. Es kann helfen, alles Gewohnte mal ausnahmsweise nicht zu machen, um anderweitig kreativ zu werden und noch mal anders auf den eigenen Körper zu hören“, sagt Härtel. Und konkreter: „Unsere Gesellschaft suggeriert indirekt, dass penetrativer Sex der einzige Weg sei, aber um intim miteinander zu sein, gibt es viele Möglichkeiten. Dem anderen mitzuteilen, welche Dinge man an ihm liebt, kann viel erotischer sein als der gewohnte Akt. Und wenn man sich wieder an geteilte Intimität herantrauen möchte, kann schon ein vierminütiges In-die-Augen-Schauen im Schweigen viel bewirken.“

Bedeuten die Wechseljahre ein Ende der Lust?

Zwischen 40 und 50 Jahren ist der Sex am besten. Sex findet um des Sexes willen statt“, schreibt die Frauenärztin Sheila de Liz in ihrem Bestseller „Woman on Fire“. Denn viel von dem Ballast, der das bisherige Sexleben begleitet habe, sei abgeworfen. Die Kinder sind aus dem Haus, Erfahrungen gesammelt, die Libido ist weiter aktiv, die Familienplanung abgeschlossen. Als Mädchen sei man verkrampft und unsicher, dazu kommt die Angst vor ungewollter Schwangerschaft, dann ist Sex belastet durch Familienplanung, in der Schwangerschaft steht das Ungeborene im Fokus. Während der Mutterschaft rückt Sex in den Hintergrund, wenn beispielsweise die Kinder ins Elternbett klettern. Sex werde zur lästigen Aufgabe, damit der Mann sich nicht zurückgewiesen fühle. Dann beginnt die Menopause – mit ähnlichen Symptomen auch beim Mann die Andropause mit sinkendem Testosteron und nachlassender Libido. Bei der Frau lässt die Hormonproduktion von Östrogen und Progesteron nach; Hitzewallungen, Nachtschweiß, Stimmungsschwankungen und Schlafprobleme können auftreten. Dazu kommen oft Veränderungen im Privatleben, die Kinder ziehen aus, das Selbstbild gerät ins Wanken. Negative Gedanken wie „Ich bin alt, unbrauchbar, unsichtbar“ tauchen auf. Wo bleibt da Platz für die Lust?

Tatsächlich zeigen Studien, dass Frauen über 50 Jahre weniger Sex haben, aber das Interesse daran unverändert bleibt, zwischen 50 und 60 Jahren wünschen sich die meisten Frauen mehrmals im Monat Sex. Der Wunsch nach sexuellen Kontakten ist größer als die gelebte Sexualität. „Das Östrogen ist weg, das heißt nicht, der Sex auch“, sagt Büttner. Erregbarkeit und Orgasmusfähigkeit blieben zumeist unverändert. Das genitale Gewebe ist empfindsamer und weniger durchblutet, es dauert länger bis frau erregt ist. Büttner empfiehlt, den ganzen Körper einzubeziehen. „Sex ist nicht gleich Penis in Vagina. Die Haut ist das größte Lustorgan, weg von der Genitalfixierung“, fordert sie. Je nachdem, wie die Frau mit ihren körperlichen Veränderungen umgehe – „Hurra keine Tage mehr, endlich frei!“ oder: „Ich bin keine vollwertige Frau mehr ohne Periode“ – gestalte sich auch die Sexualität. Das sei vor allem ein Selbstwertkonfliktthema. Die Schwierigkeit, sich anzunehmen mit allen Veränderungen, und die Verlassensangst, weil vermeintlich nicht mehr attraktiv genug, gilt es zu bewältigen.

Büttner empfiehlt: „Weg vom Schamgefühl, hin zur Akzeptanz und Selbstliebe.“ „Oftmals verändern sich die Wünsche in der Sexualität, sei es, dass Frauen aktiver oder passiver, dass sie mutiger oder vorsichtiger werden. Viele Frauen entdecken mehr ihre eigenen erotischen und sexuellen Bedürfnisse“, beobachtet Sexualberaterin Siller. Das Begehren sollte von innen, von einem selbst heraus kommen und Sex nicht nur den Partner befriedigen. Miteinander gute Sexualität leben zu wollen, sei die Entscheidung zweier Menschen, nicht nur die des Mannes. Was alles ist Sexualität außer Geschlechtsverkehr? Worauf habe ich stattdessen Lust? Auf Umarmungen oder einfach mal wieder kuscheln? Was wünscht frau sich, um in Genuss und Erregung zu kommen? Oft helfe eine entspannte Herangehensweise: „Ich weiß nicht, ob ich jetzt kommen kann!“ Dann sei der Erwartungsdruck gleich weg und Energie könne besser fließen, rät Siller.

Wie lässt sich erfüllte Sexualität im Alter leben?

Alter und Sex sind immer noch ein Tabu, vor allem ältere Frauen als sexuelle Wesen. Sexualität im Alter wird aber immer mehr zum Thema, weil die Lebenserwartung zugenommen hat; im 19. Jahrhundert währte eine Ehe bis zum Tod im Durchschnitt 20 Jahre, heute ist die Dauer gemessen an der Lebenserwartung doppelt oder dreimal so lang – Trennungen ausgenommen. Und das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und emotionaler Intimität bleibt bestehen. „Sexualität hat immer den Einfluss, der ihr zugestanden wird. Wenn die jeweilige Person sich Zeit nimmt, Veränderungen in der eigenen Erregbarkeit wahrzunehmen, ist erfüllte Sexualität ein ganzes Leben lang möglich“, erklärt Sexologin Theresia Härtel.

Und manchmal sogar einfacher. Mit steigendem Alter und gleichem Partner muss man sich nichts mehr beweisen, wird gelassener und hat in der Regel akzeptiert, dass der Körper altert. Die Häufigkeit des sexuellen Verkehrs nimmt ab, die Bedeutung der Zärtlichkeit dafür zu. Laut einer US-Studie ist über die Hälfte der Menschen zwischen 65 und 80, die in Partnerschaft leben, sexuell aktiv. Die sexuelle Zufriedenheit liegt bei den 66- bis 75-Jährigen noch über jener in der Lebensmitte, ein Drittel der Frauen ist sexuell aktiv, so die Gesid-Studie. Körperliche Liebe bleibe wichtig, sagen 61 Prozent der über 75-Jährigen. „Ältere Paare, die sich später gefunden haben, haben oft etwa genauso viel Sex wie junge Paare“, erklärt Melanie Büttner. Entscheidend ist nicht das Alter, sondern die Dauer der Beziehung. Eine 60-Jährige mit neuem Partner sei manchmal sexuell aktiver als eine 30-Jährige in langer Partnerschaft. Das orgiastische Potenzial bleibe bestehen bis zum Tod. „Es gibt kein Verfallsdatum für Sexualität“, so Büttner. „Ein Orgasmus mit raschen, zielorientierten Handlungen forciert, ist nicht immer das eine Ziel, sondern mehr die gesamte Erfahrung der Begegnung. Denn Erotik, Lust und Genuss haben auch ganz andere Komponenten. Lösen wir uns von der Vorstellung, dass Sex im Alter kaum noch stattfindet. Ja, Sexualität verändert sich, schauen wir, was kommt“, sagt Nicole Siller. „Erinnern Sie, was früher wichtig und schön war, und schauen Sie, was jetzt Freude macht, dem Körper und der Seele, der Beziehung guttut. Zärtlichkeiten und Berührungen funktionieren bis zum letzten Atemzug“, ist sie überzeugt.

 

Weibliche Lust als Tabu in der Kirche

Noch vor knapp 60 Jahren entschied der Bundesgerichtshof, dass engagierter ehelicher Beischlaf eine Ehepflicht sei – und nicht „teilnahmslos oder widerwillig“, sondern „in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft“ erfolgen sollte. Der Partner suche im ehelichen Verkehr seine natürliche und legitime Befriedigung. Erst seit 1997 ist das Erzwingen von Sex in der Ehe als Vergewaltigung strafbar. Noch in den 2000er-Jahren gab es Urteile, die bei Scheidungen den Unterhalt wegen Verweigerung von Sex kürzten. Gesellschaftliche und religiöse Normen prägen das Bild von Sexualität. Dabei wird die weibliche Lust oft unterdrückt. Mit ihren Vorstellungen von Reinheit und Keuschheit kategorisierte die christliche Lehre Frauen als „Huren“ oder „Heilige“– ein Klischee, das bis heute nachwirkt. Sexualität war hauptsächlich auf Fortpflanzung beschränkt, sexuelle Freiheit blieb Männern vorbehalten. Frauen wurden auf ihre Rolle als Mütter und Ehefrauen reduziert. Weibliches Begehren wurde ignoriert oder als gefährlich und sündhaft betrachtet. Die männlich dominierte Medizin behandelte noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts weibliche Lust als Krankheit. Dazu Pastoralreferentin Theresia Härtel:

Frau Härtel, passen Glaube und Sex zusammen?

Theresia Härtel: Warum sollte Gott genau in lustvollen Momenten wegschauen? Menschen beschreiben sogar, dass ihnen lustvoll gelebte Sexualität intime Möglichkeiten der Gotteserfahrung geschenkt hat. Leider wurde in der Vergangenheit durch die Überbetonung der Askese und der absoluten Leibfeindlichkeit ein komplett gegenteiliges Bild von Sexualität in der Kirche propagiert. Immer noch ist unter Gläubigen eine Verbotskultur verbreitet, die lediglich für die Zeugung von Nachkommen entkräftet wird. Und was man sich über Jahre verboten hat, aber nicht immer durchhalten konnte, plötzlich zu dürfen, ist schwer umzulernen.

Unterdrückt Glaube Sexualität im Alltag?

Härtel: Eine mögliche Folge ist die Scham vor dem eigenen Genital und den eigenen Bedürfnissen, was sich stark auf das Erleben von Sexualität auswirkt. Lust war in der katholischen Kirche bis zur Amazonas-Synode kein Thema bei Sexualität. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, Mitte der 1960er-Jahre, wurde außer der Zeugung von Nachkommen auch das Wohl der Ehepartner*innen als Bestandteil der Ehe und damit als Rahmen für Sexualität anerkannt.

 

Mehr Information

Online
Zeit-Online-Podcast „Ist das normal?“ mit Ärztin und Therapeutin Melanie Büttner über Sexualität
www.melanie-buettner.de

Webportale
Omgyes.com Wissenschaftliche Umfragen zu weiblicher Lust
liebesleben.de und loveline.de Angebote der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für Jugendliche

Bücher
Nicole Siller: Mein Sex, what else? Das Buch der weiblichen Lust, Kneipp Verlag Wien, 2022, 16 Euro. www.lebendich.at
Sheila de Liz: Woman on Fire: Alles über die fabelhaften Wechseljahre, Rowohlt Polaris, 2020, 16 Euro.

Autorin: Katrin Otto

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