Solidarität mit missbrauchten Frauen
Solidarität zeigen mit Frauen, die im Raum der Kirche sexuellen und spirituellen Missbrauch erfahren haben – wie ist das möglich? Theologin Regina Heyder hat mit Kolleginnen aus der Theologischen Kommission des KDFB Antworten gefunden: in dem Buch „Erzählen als Widerstand“.
Sie bewegen mich – die 23 Frauen, die in unserem Buch über spirituellen Missbrauch, sexuellen Missbrauch und Machtmissbrauch schreiben, den sie als Erwachsene im Raum der Kirche erlitten haben. Jede Erzählung ist einzigartig, und gleichzeitig ergreifen die Autorinnen das Wort stellvertretend für viele andere Betroffene, die ihre Geschichte nicht erzählen können oder nicht erzählen wollen.
Der KDFB hat sich auf der Bundesdelegiertenversammlung 2018 zu Solidarität mit Betroffenen verpflichtet. Ich stelle mir immer wieder die Frage, wie diese Solidarität konkret aussehen kann. Eine erste Antwort habe ich für mich gefunden: die bewusste Haltung, dass „die Betroffenen“ nicht „die anderen“ sind, dass sie keine identifizierbare Gruppe sind, sondern in gleicher Weise wie alle Getauften Kirche.
Machtmissbrauch und Klerikalismus bilden die Wurzel für Missbrauch
Eine zweite Antwort: Wie in der MHG-Studie, die sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker im Verantwortungsbereich der Deutschen Bischofskonferenz ermittelt hat, so ist auch in „Erzählen als Widerstand“ offenkundig, dass Machtmissbrauch und Klerikalismus die Wurzeln für spirituellen und sexuellen Missbrauch bilden. Für beides braucht es ein Umfeld, das es Täter*innen ermöglicht, dominant, manipulativ oder intransparent zu agieren. Insbesondere ehrenamtlich Engagierte können hier solidarisch sein, indem sie solche Handlungsmuster ansprechen und unterbrechen – zuerst gegenüber Täter*innen, möglicherweise aber auch gegenüber betroffenen Menschen. Leicht ist das nicht, doch manche Frau, die im Buch zu Wort kommt, hätte es sich gewünscht.
Als Theologin bin ich überzeugt, dass Theologie dem „Guten Leben“ dienen kann und soll. In den 23 Erzählungen unseres Buches ist jedoch das Gegenteil der Fall. Täter*innen instrumentalisieren die Bibel, Theologie und Liturgie, um die spirituelle und sexuelle Selbstbestimmung ihrer Opfer zu verletzen. Etliche Betroffene schildern, wie sie zuletzt ihren eigenen Empfindungen und ihrem Gewissen nicht mehr vertrauten. Um es deutlich zu sagen: Weder die universitäre Theologie noch Kirchenrecht oder Katechismus rechtfertigen Missbrauch. Ich wünsche mir deshalb, dass wir im Verband Frauen in ihren theologischen Kompetenzen stärken – um des selbstbestimmten guten Lebens willen.
Missbrauch geschieht dort, wo Not oder Sehnsucht am größten sind
Das Buch ist ungeplant in Corona-Zeiten erschienen. Eine der wichtigsten Lernerfahrungen aus den Erzählungen ist, dass Missbrauch dort geschieht, wo die Not oder die Sehnsucht am größten sind. Schwierige Familienkonstellationen oder Trauer machen ebenso verletzlich wie die Sehnsucht nach Nähe, Karriere oder geistlicher Erfahrung. Leider ist damit zu rechnen, dass mit der pandemiebedingten Not Missbrauchsfälle ansteigen. In die nun notwendigen gesellschaftlichen Debatten sollten wir als Verband die Stimmen der 23 Frauen einbringen.
EIN VIEL BEACHTETES BUCH
Das Buch „Erzählen als Widerstand“ (Aschendorff Verlag, 20 Euro) hat seit seinem Erscheinen im November 2020 ein großes Medienecho ausgelöst. Es enthält nicht nur Erzählungen von Betroffenen, sondern thematisiert in theologischen Essays auch die Hintergründe des Missbrauchs. Die Herausgeberinnen und Theologinnen Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber und Dorothee Sandherr-Klemp arbeiten beruflich, ehrenamtlich und wissenschaftlich zu spirituellem und sexuellem Missbrauch. Sie engagieren sich zudem in der Theologischen Kommission des KDFB. Mehr unter www.erzaehlen-als-widerstand.de
Protokoll: Eva-Maria Gras
aus: KDFB engagiert 2/21