Mit der Leerstelle leben

„Die Leere ist wie ein Krater, eine Verzweiflung unfassbar traurig“, Raffaela
Was bedeutet es, ungewollt kinderlos zu sein? Wie kann aus der Leere eine Fülle entstehen? Ein unerfüllter Kinderwunsch ist nicht das Ende, sondern kann der Anfang von etwas Anderem sein. Von Katrin Otto
Als Kind war Raffaela eine leidenschaftliche Puppenmama. „Ich bin mit dem starken Wunsch aufgewachsen, Mutter zu werden – sowohl von meiner Mutter als auch von meiner Großmutter wurde mir dieses Ideal vermittelt. Das war für mich glasklar“, erinnert sich die 57-Jährige. Ihr Lebensziel war eine Großfamilie mit am liebsten vier Kindern. Doch es kam anders.
Sie wuchs in der Generation der Babyboomer (Geburtsjahrgänge 1955 bis 1969) auf, die wirtschaftliche Unabhängigkeit und berufliche Selbstverwirklichung als selbstverständlich ansah. Mit 34 Jahren lernte sie ihren Lebenspartner kennen – 17 Jahre älter und bereits Vater von drei Kindern. „Er hatte keinen Kinderwunsch mehr, und ich habe viel Rücksicht genommen. Ich wollte einen totalen Konsens in der Kinderfrage.“ Erst mit 39 Jahren wollte sie nicht länger warten. Sechs Jahre lang ließ sie nichts unversucht, um schwanger zu werden, erlitt zwei Fehlgeburten, darunter eine Eileiterschwangerschaft. „Das war ein totales Trauma. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl: Es könnte womöglich nicht klappen“, schildert Raffaela ihre damalige Situation.
Zuerst der Beruf
Statistiken zeigen, dass Raffaelas Geschichte kein Einzelfall ist. Viele Paare verschieben ihren Kinderwunsch aus privaten oder beruflichen Gründen nach hinten. Rund 40 Prozent der 18- bis 29-jährigen Frauen möchten zunächst Karriere machen, so eine Umfrage von 2020. Doch mit etwa 30 Jahren, wenn die Fruchtbarkeit bereits abnimmt, haben knapp 40 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) kein Kind. So wird oft aus einer erst gewollten eine ungewollte Kinderlosigkeit.
Für die 54-jährige Franziska war immer klar, dass sie Kinder haben würde. „Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und hatte mir schon die Namen überlegt.“ Doch Ausbildung, Studium und die ersten Berufsjahre ließen zunächst keinen Raum. Ab 35 Jahren wurde ihr Wunsch drängender.
Die Chance, bei regelmäßigem Geschlechtsverkehr schwanger zu werden, ist geringer als viele glauben. Sie liegt bei einem fruchtbaren Paar bei zehn bis 30 Prozent pro Zyklus. Ein Viertel der kinderlosen Frauen und Männer im Alter zwischen 20 und 50 Jahren wünscht sich ein Kind – oft schon seit Jahren. Und die wenigsten rechnen damit, dass es nicht klappen könnte. Im Alter von 30 bis 39 Jahren hatte knapp die Hälfte aller Frauen und 66 Prozent der Männer noch nie den Gedanken, dass ihr Kinderwunsch sich nicht erfüllen könnte. Selbst bis zum Alter von 50 Jahren hat knapp ein Drittel der Frauen und über die Hälfte der Männer keinen Zweifel an ihrer Fruchtbarkeit.
„Meist wird eine genetische Abklärung mit Gesprächen und Tests empfohlen, wenn der Kinderwunsch länger als ein Jahr unerfüllt bleibt oder wiederholt Fehlgeburten auftreten“, erklärt Caroline Lehmann, Fachärztin für Humangenetik aus Frankfurt. Sie selbst erlitt vier Fehlgeburten, bevor ihr Sohn zur Welt kam. Trotz zahlreicher medizinischer Untersuchungen konnte keine Ursache gefunden werden – ein Schicksal, das mehr als 50 Prozent der Frauen mit Fehlgeburten teilten.
Hoffen und Bangen
„Es gab viele Untersuchungen, einen regelrechten Ärztemarathon, aber die Ursache konnte nicht eindeutig geklärt werden“, berichtet auch Franziska. Bei zehn bis 15 Prozent der kinderlosen Paare bleibt die Ursache unbekannt.
Raffaela probierte es vier Jahre lang mit medizinischer Hilfe. Über 36 Zyklen lang durchlebte sie eine emotionale Achterbahnfahrt: Hoffnung bis zum Eisprung, 14 Tage Bangen bis zum Schwangerschaftstest – dann kam die Regel. „Ich habe Fruchtbarkeitstees getrunken, Yoga, Akupunktur und Osteopathie gemacht – immer hieß es: ,Das hilft, nach drei Monaten bist du schwanger.‘“ Medizin sei eine Männerdomäne, psychologisch war das ein Schiffbruch, resümiert sie. Schließlich schlug ihr ein Arzt eine anonyme Eizellspende vor – mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden. „Du klammerst dich an einen Strohhalm und dann reicht dir jemand einen Baumstamm – das war Wahnsinn, so viel Erfolgschancen“, erinnert sie sich. Dennoch, nach eingehender Recherche, entschied sie sich dagegen, denn das Kind könnte nie seine biologische Mutter kennenlernen. „Das war ein Akt der Mutterliebe, weil es für mich ein Grundrecht ist, zu wissen, wo man herkommt.“
Trauer und Verarbeitung
Ein unerfüllter Kinderwunsch bedeutet für viele Paare eine Lebens- und Sinnkrise. „Natürlich können Frauen auch ohne Kinder erfüllt leben. Doch das ist meist ein längerer Prozess, in dem auch Abschied von der bisherigen Lebensplanung genommen werden muss“, erklärt die Psychotherapeutin Brigitte Hahlweg-Widmoser aus München. Sie behandelt seit Jahren Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch. Viele Frauen seien verunsichert, bezweifeln ihr Selbstbild und fühlen sich in ihrem bisherigen körperlichen Selbstverständnis infrage gestellt.
Franziska beschreibt ihre Gefühle so: „Ich fühlte mich schon wertloser als Frau. Alles andere durfte ich ja auch erleben: Menstruation, Regelschmerzen, Wechseljahre, hormonelle Schwankungen – wofür das Ganze, wenn der Körper dann keine Schwangerschaft zulässt?“ Niemals Mutter sein zu dürfen, hinterlasse eine große Narbe in der Seele.
Raffaela suchte sich therapeutische Hilfe. „Es war psychisch grausam, das zu verarbeiten. Eine existenzielle Erfahrung, die Leere wie ein Krater, eine Verzweiflung, unfassbar traurig“, erzählt sie. Die Erkenntnis, dass ihr Ast des Familienbaums nicht weiter ausschlägt, war besonders schmerzhaft. Auch darüber zu sprechen, sei ein langsamer Prozess gewesen, wie ein Coming-out. Ein Satz ihrer Therapeutin gab ihr Halt: „Man bringt sich nicht um, wenn man kein Kind bekommt.“ Es half ihr, den Verlust zu akzeptieren und das eigene Leben wiederaufzunehmen. Sie schrieb ihre Erfahrungen auf und plant, ein Buch zu veröffentlichen (siehe dearlavinia.com). „Man kann den Schmerz transformieren und etwas Sinnvolles daraus machen“, ist sie überzeugt. Geholfen hat ihr ihre Familie. Sie hat, neben drei Stiefkindern, von denen sie drei Enkel hat, sieben Patenkinder und ein Kind im SOS-Kinderdorf, die sie beim Heranwachsen begleitet.
Ähnlich war es bei Franziska: „Mir hat meine Partnerschaft geholfen, das zunehmende Alter, die biologische Uhr tickt irgendwann leiser. Meine Freunde, deren Kinder ich beim Aufwachsen begleiten durfte – mit allen Aufs und Abs. Meine große Schwester, die ebenfalls kinderlos blieb und trotzdem zufrieden wirkt. Meine Eltern, die keinen Druck ausübten, wann denn endlich ein Enkelkind kommt. Das Wissen, auch als Tante eine Rolle zu spielen im Leben von Kindern.“
Gesellschaftlicher Druck
Obwohl jedes zehnte Paar in Deutschland ungewollt kinderlos bleibt und jedes sechste nicht ohne medizinische Hilfe schwanger wird, wird das Thema als Tabu behandelt. Muttersein ist stark an die eigene Geschlechtsidentität geknüpft. Über 60 Prozent der Frauen glauben, Mutterschaft gehöre zum Frausein dazu, aber auch 56 Prozent der Männer finden, Vatersein gehöre zum Mannsein dazu. Ein Kind bedeutet soziale Anerkennung und ermöglicht gesellschaftliche Partizipation. „Es bleibt immer diese Leerstelle“, ergänzt Raffaela. „Die Gesellschaft hat nach wie vor das traditionelle Bild, das eine der Schlüsselfunktionen der Frau ist, Kinder zu bekommen.“ Entsprechend habe sie immer das Gefühl, gescheitert zu sein, weil kinderlos. Es sei ungerecht, dass man sich als Frau ständig dafür rechtfertigen müsse.
„Gefühle der Trauer, der Enttäuschung und manchmal auch der Wertlosigkeit können sich insbesondere dann verstärken, wenn Frauen gesellschaftlich oder kulturell unter Druck gesetzt werden, Mutter zu werden oder dem natürlichen oft idealisierten Lebensweg zu folgen“, berichtet die Ärztin Caroline Lehmann. 40 Prozent der ungewollt kinderlosen Paare sind der Auffassung, dass es ein Makel in unserer Gesellschaft sei, kein Kind zu haben.
Wie jedes Leiden ist auch ungewollte Kinderlosigkeit ein Prozess mit verschiedenen Phasen. Das Wissen darum kann trösten. Erst der Schock, dann die Verleugnungsphase mit Arztbesuchen und Hoffnung. Das Selbstbewusstsein leidet, es entsteht ein Gefühl der Machtlosigkeit bis zum Kontrollverlust über die eigene Lebensplanung. Das löst eine Phase der Wut aus – warum ich? Es folgt die Suche nach der Schuld: zu ungesund gelebt, zu lange gewartet? Dann kommt die Isolierungsphase, der Rückzug aus dem sozialem Leben; Sexualität wird als sinnlos empfunden. Schließlich die Trauerphase, in der der unerfüllte Kinderwunsch verarbeitet wird. Im besten Fall denken dann Paare über die Zukunft nach und schmieden gemeinsam Pläne, um in der Akzeptanzphase gestärkt aus der Krise zu gehen.
Partnerschaft stärken
„Es war eine extrem belastende Zeit für unsere Beziehung“, bilanziert Raffaela. „Aber wir sind daran gewachsen.“ Ihr Partner hatte die Kindersehnsucht nicht, sei aber jeden Weg mit ihr gegangen. Der unerfüllte Kinderwunsch stellt Partnerschaften auf eine harte Probe. „Es gibt Paare, die den Prozess gemeinsam durchschreiten, die Höhen und Tiefen, die Enttäuschungen nach einem erfolglosen Zyklus zusammen bewältigen“, so die Psychotherapeutin Hahlweg-Widmoser. Nicht selten fühlten sich Frauen eher als versagend, oftmals leide die Sexualität. „Geschlechtsverkehr wird mit dem Ziel verbunden, schwanger zu werden, und verliert dadurch an Spontaneität und Leichtigkeit“, stellt die Medizinerin Lehmann fest. Dieser Druck des „Funktionieren-müssens“ belaste viele Paare ebenso wie unausgesprochene Schuldgefühle. Auch wenn jede*r weiß, dass niemand absichtlich verantwortlich ist, kann das Gefühl, nicht genug getan zu haben oder „schuld“ zu sein, zu unterschwelligen Konflikten führen.
„Für viele Paare ist es eine Zeit großer emotionaler He-rausforderungen. Der ständige Wechsel zwischen Hoffnung und Enttäuschung bringt Gefühle wie Trauer, Schuld und Wut mit sich“, sagt Ärztin Lehmann. Nicht immer erlebten beide Partner diese Gefühle auf die gleiche Weise oder zur gleichen Zeit. Während der eine vielleicht viel reden möchte, ziehe sich der andere zurück, dieser unterschiedliche Umgang könne den Eindruck von Distanz und Unverständnis verstärken. Männer gingen mit dem Kinderwunsch oft anders um als Frauen, was nicht bedeutet, dass ihre Emotionen weniger stark sind – sie werden oft nur anders erlebt oder ausgedrückt. Hilfsangebote und Informationen richteten sich weitgehend an Frauen.
Ein unerfüllter Kinderwunsch kann eine Beziehung erschüttern, die gemeinsame Bewältigung kann sie aber auch festigen. Was verbindet uns als Paar? Was bereitet zusammen Freude, welche gemeinsamen Interessen haben wir? Franziska und ihr Mann gingen gestärkt aus der Krise hervor: „Mein Mann ist den Weg mit mir gegangen, durch die anstrengenden und manchmal entwürdigenden, absurden und auch sehr teuren Kinderwunschbehandlungen. Doch er war erleichtert, als ich nach langem Nachdenken signalisierte, dass ich auch ohne Kinder leben kann. Die gemeinsame Entscheidung, eine kleine Familie ohne Kinder zu bleiben, hat uns zusammengeschweißt.“
Langfristig zeigen Studien, dass Paare mit und ohne Kinder keine Unterschiede in Lebenszufriedenheit oder Wohlbefinden aufweisen. „Ich weiß, dass mein Mann und ich eine fundamentale Erfahrung verpassen. Aber jedes Kind ist ein Geschenk, und ich freue mich mit meinen Freundinnen und meiner Schwester, die Mütter geworden sind“, sagt Franziska. Das Leben bleibt wertvoll – auch mit der Leerstelle.
Was helfen kann: Selbstfürsorge
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Tipps von Caroline Lehmann, Fachärztin für Humangenetik
Ein wichtiger Schritt ist, sich nicht nur auf das Verlorene zu konzentrieren, sondern auch auf das, was die Zukunft an Möglichkeiten bereithält. Dabei geht es nicht darum, den Schmerz oder die Erinnerung zu verdrängen, sondern vielmehr darum, den Verlust als Teil der eigenen Geschichte anzunehmen und gleichzeitig Platz für neue Perspektiven zu schaffen. Selbstfürsorge spielt dabei eine zentrale Rolle. Durch achtsame Bewegungen, Körperarbeit und gezielte Übungen zur Stressbewältigung kann Schritt für Schritt das innere Gleichgewicht zurückgewonnen werden – und so wächst auch das Vertrauen in sich selbst und in die Zukunft. Viele Frauen finden Erfüllung darin, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen und denjenigen zu helfen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Genauso wichtig ist die Unterstützung von außen. Frauen sollten sich nicht scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, beispielsweise durch psychologische Beratung und ärztliche Begleitung. Wir hinterfragen die Glaubenssätze, die wir über das Kinderkriegen und Schwangerwerden verinnerlicht haben, bringen Klarheit in unsere Gefühle und schaffen innerlich Ordnung – so gewinnen wir Stück für Stück die Kontrolle über unser Leben zurück.
Zum Weiterlesen: Caroline Lehmann: Hilfe bei Fehlgeburt, tredition, 2024, 29,95 Euro.
Kurse und Infos: www.caroline-lehmann.com