Menü

KDFB-Spendenaktion Zeltschulen

01.10.2024

Wenn Lernen alles verändert

Es sind von der Welt vergessene Kinder. Die meisten der syrischen Flüchtlingskinder, die in provisorischen Camps im Libanon und in Syrien untergekommen sind, haben nicht mal Papiere. Doch nicht alle haben sie aus dem Blick verloren: Ellen-Ammann-Preisträgerin Jacqueline Flory sorgt mit ihren Zeltschulen dafür, dass sie eine Schulbildung erhalten. Der KDFB unterstützt den Verein Zeltschule mit seiner diesjährigen Spendenaktion.

Hadir ist erst sieben. Trotzdem hat sie im letzten Jahr auf einem Olivenfeld gearbeitet. Jeden Tag fast zehn Stunden lang. Für das Pflücken der Oliven war sie zu klein. Ihre Aufgabe war es, mit einem riesigen Korb auf dem Rücken das Feld abzugehen, von Pflücker zu Pflücker. Alle schütteten die geernteten Oliven in ihren Korb, der immer schwerer wurde. Nach ein paar Stunden schmerzte ihr ganzer Körper. Hadirs Familie gehört zu den 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen, die über die Grenze in das Nachbarland Libanon gekommen sind. Seit 2011 herrscht in Syrien Bürgerkrieg. Die Familie lebt in einem Zelt in einem Flüchtlingscamp in der grenznahen Bekaa-Ebene. Das Mädchen wusste: Wenn sie aufgibt, hat ihre Familie nichts zu essen. Also schleppte sie sich weiter von Baum zu Baum. Von den drei Dollar, die sie pro Tag bekommt, müssen ihre Eltern Miete für den Grund, auf dem das Zelt steht, bezahlen und die dringend benötigten Lebensmittel kaufen. Denn erwachsene Flüchtlinge erhalten im Libanon keine Arbeitserlaubnis. Um zu überleben, bleibt den Familien keine andere Wahl, als ihre Kinder zur Feldarbeit zu schicken.

Schulweg zwischen Zeltplanen

Die Welt von Hadirs Familie und von unzähligen anderen Familien besteht aus Zelten. Aus langen staubigen oder je nach Witterung matschigen Gängen, auf deren Seiten sich Zeltwand an Zeltwand reiht. Hier harren sie bei unerträglichen 45 Grad im Sommer genauso aus wie im schneereichen kalten Winter. Gerade die Kinder kennen oft nichts anderes als dieses Leben im Camp. Sie kennen keinen Lichtschalter, kein Bad, kein Spielzeug. Nur die älteren Teenager erinnern sich noch an ihr Haus, ihr Kinderzimmer, ihr früheres Leben, das es nicht mehr gibt. Die meisten waren bei der Flucht noch zu klein, um sich an ihr Zuhause zu erinnern oder sind in den Flüchtlingscamps geboren worden. Offiziell gibt es die Kinder nicht. Sie werden nicht
registriert, haben keine Papiere. Was zur Folge hat, dass sie nirgends hinkönnen, selbst zurück nach Syrien nicht, weil ihre Eltern nicht nachweisen können, dass es ihre Kinder sind. Keiner weiß, wie viele Kinder es genau sind. Nach Schätzungen gibt es allein in der libanesischen Bekaa-Ebene
2 000 wilde Camps, um die sich niemand kümmert. Eine ganze Generation von Kindern lebt dort, die keinen Zugang zu Bildung und damit verheerende Zukunftsaussichten hat.

Eine Generation ohne Schulbildung

Jacqueline Flory lebt mit ihren beiden Kindern mitten in München. Doch seit 2016 ist die alleinerziehende Mutter eine Wanderin zwischen den Welten. Die Übersetzerin für Englisch, Spanisch und Arabisch kennt den Nahen Osten von verschiedenen Reisen. Als die Flüchtlingswelle 2015 in München anrollt, sieht sie am Hauptbahnhof, wie die Menschen total verstört ankommen und mit Blumen und Applaus empfangen werden. „Es war eine surreale Situation, und ich musste daran denken, wie viele Menschen die Flucht nicht überlebt haben, und überlegte, warum man nicht früher helfen kann. Dort wo die Menschen herkommen, damit sie sich gar nicht erst auf diese lebensgefährliche Reise begeben müssen.“ Der Gedanke lässt ihr keine Ruhe. Sie recherchiert, aktiviert ihre persönlichen Kontakte in den Libanon und stellt fest, dass die Kinder in den Flüchtlingscamps zum Großteil keine Schulen besuchen. „Das hat mich schockiert. Wie können wir es zulassen, dass eine ganze Generation ohne Schulbildung bleibt und so ein gefundenes Fressen für die Extremisten ist?“
Es gelingt ihr, den Elternbeirat der Schule ihrer Kinder zu aktivieren. Der schwer vorstellbare Plan: Wir bauen eine Zeltschule. 2016 fliegt sie mit ihren beiden Kindern in den Libanon, sucht ein Camp aus und beginnt mit den vollkommen überraschten Menschen vor Ort, eine Schule zu errichten. Im Gepäck hat sie eine riesengroße Zeltplane, bemalt von Münchner Kindern. Das wird die Außenwand. Alles, was für die Schule gebraucht wird, wie Schulbücher und Stifte, hat sie schon von zu Hause aus bestellt und liefern lassen. In neun Tagen steht die Schule. Lehrerinnen und Lehrer gibt es in den Camps genug. „Sie sind froh, wenn sie wieder einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen können. Wir dürfen sie nicht bezahlen, weil auch für sie das Arbeitsverbot gilt. Aber sie sind ehrenamtlich mit großem Engagement tätig. Wie die vielen anderen Helferinnen und Helfer, die Essenspakete verteilen, Schulessen kochen und alle anfallenden Arbeiten im Camp verrichten.“ Mit Lebensmitteln, Wasser und Feuerholz werden sie vom Verein Zeltschule versorgt. Genauso wie alle anderen Familien im Camp. Denn nur wenn die Familien mit dem Nötigsten ausgestattet sind, können sie ihre Kinder in die Schule statt zur Feldarbeit schicken.
Zur ersten Schule sind noch 56 weitere dazugekommen. Das heißt, dass in 57 Flüchtlingscamps nun Kinder lernen können. Nicht alle davon sind im Libanon. Auch in einigen Gegenden Syriens siedeln sich zwischen Ruinen wieder Binnenflüchtlinge aus anderen Regionen des Landes an. Dort werden ebenso Schulen gebraucht.
Hadirs Familie hat davon gehört, dass es Camps gibt, in denen die Kinder lernen dürfen. Ihre Eltern haben nächtelang beraten, dann den riskanten Schritt gewagt, das Camp zu wechseln. Riskant deshalb, weil man nicht weiß, ob man im anderen Camp aufgenommen werden kann. Riskant auch, weil die Flüchtlinge keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung haben und aus diesem Grund vermeiden müssen, sich außerhalb der Camps zu bewegen. Mit drei Tüten voller Habseligkeiten kam Hadirs Familie an. Bei der Kamelschule im Camp war gerade große Pause, und alle Kinder wuselten vor dem Zelt herum. Vier Tage später hatte Hadir ihren ersten Schultag.

 

Lernen im Schichtbetrieb

Gelernt wird in den Zeltschulen im Schichtbetrieb. Morgens von sieben Uhr bis elf Uhr sind die ganz Kleinen, die Fünf- bis Siebenjährigen, dran, um zwölf Uhr kommen die Acht- bis Elfjährigen und bleiben bis 16 Uhr, und die ältesten Kinder lernen von 17 bis 21 Uhr. „Wir müssen Anwesenheitslisten führen, weil sonst die Gefahr besteht, dass die Kinder zweimal am Tag kommen. So viel Platz haben wir nicht“, erklärt Flory. Viele Kinder sind zuvor jahrelang nicht zur Schule gegangen. Sie geben alles, um die Lücken zu füllen, und fast alle machen den offiziellen Abschluss, der der Mittleren Reife entspricht. Ihre Hausaufgaben erledigen sie in den Wohnzelten ihrer Familien auf den Matratzen, die auf dem Boden liegen. Dort spielt sich quasi das ganze Leben ab. Andere Möbel gibt es nicht. Mit mehreren Lagen dicken Teppichbodens wird versucht, die nächtliche Kälte, die vor allem im Winter extrem ist, abzuhalten.

DIe Kinder erhalten in der Schule ein warmes Essen.

Trotz der schwierigen Lern- und Lebensumstände gelingt es immer wieder, Kinder zu Höchstleistungen anzuspornen: Fatima hat geschafft, was eigentlich unmöglich scheint. Die junge Frau hat einen Studienplatz. „Meine Familie floh aus Deir ez-Zor, als ich neun Jahre alt war, und dann konnte ich im Libanon erst einmal vier Jahre lang gar nicht mehr zur Schule gehen“, erzählt sie. „Doch dann wurde in unserem Camp die Tigerschule gebaut, und es gab wieder Unterricht, endlich! Ich habe versucht, die verlorenen Jahre so schnell wie möglich wieder aufzuholen, aber studieren zu können, schien trotzdem ausgeschlossen.“ Doch dann erfuhr die Familie von einem Programm der Zeltschule, das es ermöglicht, nach dem mittleren Schulabschluss eine weiterführende Schule außerhalb des Camps zu besuchen.

Es gibt wieder Zukunft

DIe Münchnerin Jaqueline Flory besucht so oft wie möglich die Camps.

Zwei Jahre lang konnte Fatima eine Privatschule besuchen, um dort ihre Hochschulreife abzulegen. Die Gebühren dafür übernahm der Verein Zeltschule. Jeden Morgen betrat Fatima beim Verlassen des Camps eine ihr bis dahin unbekannte Welt. „Am Anfang hatte ich große Angst: Die Straßen sind für geflüchtete Mädchen und Frauen nicht sicher, es passieren viele Überfälle oder sexuelle Übergriffe. Alle Familien bringen ihren Kindern bei, nicht aus dem Camp rauszugehen“, sagt sie. Aber Fatima hatte einen Traum. Seit sie vier Jahre alt war, wollte sie gerne Apothekerin werden. Zu Hause in Syrien putzte ihre Mutter jeden Abend eine Apotheke, und Fatima liebte es, sie zu begleiten und die sorgsam beschrifteten Medikamentenschubladen abzulaufen. Dabei stellte sie sich vor, wie es wäre zu wissen, welche Medizin gegen welche Krankheit hilft. Anfangs macht sie sich Sorgen, ob sie mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, die aus dem regulären Schulbetrieb kommen, mithalten kann. Doch ihre Bedenken sind unbegründet: Sie schafft den zweitbesten Abschluss ihres Jahrgangs und kommt ihrem Traum näher: „Ich habe vor einigen Monaten mit meinem Pharmaziestudium an der LIU (Anm. der Red.: Lebanese International University ) begonnen und bin jetzt eine richtige Studentin.“ Sie hat doppelt Glück, weil sie eine der wenigen ist, die über gültige Papiere verfügt.
Jacqueline Flory freut sich mit, wenn es den Kindern gelingt, den Blick auf die Zukunft zu richten. Wenn sie die Mädchen und Jungen zum ersten Mal trifft, ist oft keine Hoffnung mehr spürbar. Zu viel Schreckliches hatten sie erlebt, zu oft waren sie vergessen worden, um sich vorstellen zu können, dass sich etwas zum Besseren wenden könnte. Doch regelmäßig passiert es, dass die Kinder plötzlich anfangen, nach vorne zu schauen, wenn sie zur Schule gehen dürfen. Sie wollen Ärztin oder Arzt werden oder Lehrer*in, weil das die Helden in ihrem Leben sind.
„Es gibt kein Kind an unseren Schulen, für das ich nicht die Schulakte angelegt habe. Ich habe mit jeder einzelnen Familie gesprochen“, berichtet Jacqueline Flory. In den Schulferien fliegt sie, wann immer möglich, in den Libanon; ihre Kinder, mittlerweile 13 und 15 Jahre alt, sind immer dabei. Der sich zuspitzende Nahostkonflikt macht die Situation schwieriger.
Schulferien kennen die Zeltschulkinder nicht: „In den Zeltschulen machen wir keine Ferien. Es gibt nichts, was die Kinder im Camp tun könnten. Sie können nicht ins Freibad, nicht Hobbys nachgehen; es gibt meist keinen Platz zum Fußballspielen. Der Mittelpunkt ihres Lebens ist die Zeltschule. Wenn wir die schließen, entsteht eine große Lücke“, erklärt die Münchnerin.

Mama lernt jetzt Lesen

Alles, was die Familien benötigen, besorgt der Verein Zeltschule bei ortsansässigen Händlern. Bei Jacqueline Flory ist daraus mittlerweile Beruf und Berufung geworden. „Es war eine schwierige Entscheidung für mich als Alleinerziehende, meine feste Anstellung aufzugeben. Aber als wir uns dann täglich um 10 000 Menschen zu kümmern hatten, merkte ich, dass das nicht mehr abends vom Küchentisch aus zu stemmen ist. Mittlerweile versorgen wir täglich 75 000 Menschen.“ Das hauptamtliche Team im Münchner Büro der Zeltschule besteht derzeit aus sechs Leuten. Alle Mitarbeiter im Libanon und in Syrien sind ehrenamtlich beschäftigt. In den Camps nehmen die Lehrerinnen und Lehrer eine Art Bürgermeister*innen-Rolle ein. Sie sind erster Ansprechpartner bei Problemen. Einmal in der Woche hält Jacqueline Flory eine Lehrer*innen-Konferenz via WhatsApp ab, um Wichtiges zu besprechen. Ebenso bietet sie auch eine Telefonsprechstunde für Familien aus den Camps an. „Wir haben ein Problem in der Schule“ – „In meinem Lebensmittelpaket fehlt etwas“ – „Ich glaube, mein Kind sieht schlecht“ … Es gibt vieles, was zu lösen ist. Auch die medizinische Versorgung der Flüchtlinge organisiert der Verein Zeltschule. Über die Jahre hat er viele Erfahrungen gewonnen. „Aus heutiger Sicht waren wir beim Bau der ersten Zeltschule noch sehr unvorbereitet“, resümiert Flory. „Wenn ich heute ein Flüchtlingscamp aussuche, in dem wir eine Schule errichten, müssen eine ganze Reihe an Kriterien erfüllt sein: Ist der Weg zum Lager befestigt genug, damit Lebensmittel und Wasser mit Lkw gebracht werden können, und gibt es Händler, die dorthin liefern können? Leben dort genügend Kinder im schulpflichtigen Alter?“

Abends drücken die Frauen die Schulbank. Eine Möglichkeit, die sie als Kind oft nicht hatten.

Wenn der Schultag in der Zeltschule für die älteren Schülerinnen und Schüler um 21 Uhr zu Ende geht, ist immer noch nicht Schluss mit Lernen zwischen den Zeltplanen: Jetzt ist die Zeit der Frauen, die nie Gelegenheit hatten, Lesen und Schreiben zu lernen. Viele Kinder sind sehr aufgeregt, weil ihre Mama jetzt auch Lesen lernt. „Am Anfang haben sich die Frauen geschämt, und ich musste von Zelt zu Zelt gehen, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Doch dann kamen mir die Männer zu Hilfe. Sie haben ihre Frauen sehr bestärkt und gesagt: ,Diese Möglichkeit nutzt du jetzt, das zu lernen.‘ Seitdem haben wir Wartelisten.“
Immer wieder passiert es ihr bei ihren Besuchen im Libanon und in Syrien, dass sich ihr Mütter aus anderen Camps in den Weg stellen. „Warum kommt ihr nicht zu uns, wir brauchen auch eine Schule für unsere Kinder?“, fragen sie „Das ist schrecklich“, sagt Flory. „Aber wir haben nicht so viel Geld, dass wir überall sein können. Klar sind unsere Schulen, angesichts der riesigen Anzahl von Camps, ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber für die Familien, deren Kinder sie besuchen können, sind sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Es verändert alles.“

Claudia Klement-Rückel

 

So können Sie helfen

Wer lernen darf, kann an seine Zukunft denken und Hoffnung schöpfen. Der Verein Zeltschule e.V. ermöglicht das Tausenden von Kindern im Libanon und Syrien. Dabei stehen Mädchen und Frauen besonders im Fokus. Besondere Förderprogramme ermöglichen beispielsweise Mädchen den Besuch einer weiterführenden Schule. Mit seiner diesjährigen Spendenaktion unterstützt der KDFB die Arbeit des Vereins Zeltschule, der von Ellen-Ammann-Preisträgerin Jaqueline Flory gegründet wurde. Wer helfen möchte, kann seinen Beitrag überweisen an:

Spendenkonto:
Katholischer Deutscher Frauenbund
Liga Bank Regensburg
IBAN: DE97 7509 0300 0202 2085 55
BIC: GENODEF1M05
Stichwort: Frauenbund hilft

Bis zu einem Betrag von 300 Euro reicht eine Kopie des Bankauszuges für den Spendennachweis beim Finanzamt aus. Dafür ist es zwingend notwendig, bei der Überweisung im Betreff das Wort „Spende“ zu vermerken. Spendenbescheinigungen werden ab einem Betrag von mehr als 300 Euro automatisch ausgestellt, ansonsten erfolgt eine Spendenbescheinigung auf gesonderte Nachfrage. Wichtig: Bitte geben Sie eine Adresse an, wenn Sie eine Spendenbescheinigung wünschen.

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
© 2024 | KDFB engagiert