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Hildegard von Bingen

Frau mit Farn
04.08.2022

Sie war eine vielseitige, mutige Frau: Die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen inspiriert noch heute. Vor zehn Jahren wurde sie zur Kirchenlehrerin erhoben. Ein Anlass, ihr spirituelles Erbe vorzustellen und mit irrigen Annahmen aufzuräumen.

Hildegard von Bingen (1098–1179) muss eine große Heilerin gewesen sein! Das vermitteln zumindest die Ratgeber, die heute mit ihrem Namen werben. So scheint sie unter anderem gewusst zu haben, wie man richtig fastet oder Allergien bekämpft, den Darm reinigt, mit Kräutern heilt und das Immunsystem stärkt. Offensichtlich hat sie dazu die Hilfe von Edelsteinen eingesetzt und viel gekocht, vor allem mit Dinkel. Hildegardkochbücher lassen sich zu Bücherbergen stapeln.

Tatsache ist jedoch, dass Hildegard kein einziges Dinkelrezept hinterlassen hat, wie die Theologin und Buchautorin Hildegard Gosebrink sagt. Das klingt ernüchternd. Gosebrink, Leiterin der Arbeitsstelle Frauenseelsorge der Freisinger Bischofskonferenz, gibt Kurse zu Leben und Werk der großen Heiligen. Gerne konfrontiert sie Teilnehmer*innen mit Forschungsergebnissen, die überraschen. Und inzwischen stellt sie fest: „Viele sind froh zu erfahren, was alles nicht von Hildegard stammt.“

Das gilt zum Beispiel für das Wissen über die Wirkung von Edelsteinen. Hildegard werden Erkenntnisse zugeschrieben, die einer Handschrift entnommen sind, die erst nach dem Tod der Heiligen verfasst wurde. Mittelalterforscher*innen gehen davon aus, dass der Inhalt nicht von ihr stammt. Das Werk, „Physica“ genannt, entspricht den Kenntnissen gelehrter Benediktiner*innen ihrer Zeit, dabei schöpft es aus dem großen Kosmos des Glaubens. Wenn daraus Teile entnommen werden, ohne den religiösen Hintergrund zu berücksichtigen, verlieren die Aussagen ihren Sinn. So gibt es in „Physica“ zum Beispiel die Empfehlung, an Saphiren zu lutschen. Das soll klug machen. Aber warum? Wie ist diese Vorstellung entstanden? Die Hildegardkennerin Gosebrink verweist darauf, dass im Lateinischen die Worte sapphirus und sapientia für Weisheit vom Klang her nahe beieinanderliegen. Sprachliche Ähnlichkeiten hatten für das mittelalterliche Denken eine tiefe Bedeutung. Zudem heißt es im Alten Testament, dass der Ort, an dem Gott erschienen ist, wie ein Saphir glänzt. Mönchen und Nonnen war der Saphir also als Gottessymbol aus der Bibel bekannt. So wird verständlich, warum in den Darstellungen von Hildegards Bibelvisionen die Christusfigur in blauer Farbe gemalt oder blau umrandet ist. Hildegard setzt Christus und Weisheit gleich. In „Physica“ sind auch wenige Zeilen über Dinkel zu finden. Davor werden Weizen, Roggen, Hafer und Gerste abgehandelt. Alle Sorten werden dort als sehr gut bewertet. Der Dinkel, das zur damaligen Zeit am häufigsten verwendete Getreide, wird als das beste bezeichnet. Der Dinkelboom von heute hat sich wohl aus diesem einen Satz entwickelt.
Wie vorsichtig man mit den Informationen aus „Physica“ umgehen muss, erläutert Hildegard Gosebrink an dem Stichwort „Erdbeeren“. In „Physica“ haben Erdbeeren eine schlechte Bewertung. In der Ratgeberliteratur werden sie als das „Küchengift der Hildegard“ bezeichnet. Sollte man also der Weisheit mittelalterlicher Klöster vertrauen und auf Erdbeeren verzichten? Dann muss man allerdings bedenken, dass die heutigen Erdbeeren aus Züchtungen stammen, die erst im 18. Jahrhundert nach Europa kamen.
Wenn die Weisheit Hildegards weder in Steinen noch in Kräutern zu finden ist, woher können ihre Impulse für heute kommen? „Aus ihrer Theologie und ihrem Leben“, sagt Hildegard Gosebrink, die seit über 30 Jahren dazu forscht. „Die Heilige hat uns viel zu sagen, damit wir unsere eigenen Antworten finden können“, ist sie überzeugt.

Inspiriert von Hildegard

900 Jahre sind zu überbrücken, um an Hildegards Denken und Handeln heute anzuknüpfen. Und doch bleiben ihre spirituellen Impulse aktuell. Anregungen zum Mitmachen.

Leben aus der „Grünkraft“

Gott und Mensch – für Hildegard braucht es immer beide. Nur wenn beide zusammenwirken, kann etwas wachsen, gedeihen und grünen – die „Grünkraft“ kann sich entfalten. Jesus Christus gelang nach Hildegard das Zusammenwirken von Mensch und Gott vollkommen. Hildegard sieht eine tiefe Verwandtschaft zwischen jedem Menschen und Christus. Deshalb ist sie sicher, dass alle ihre „Grünkraft“, das heißt, ihre spirituelle Lebensenergie, stärken können. Hildegard glaubt, dass jeder Mensch zum Schauen berufen ist. Wer aufmerksam durch die Schöpfung geht, kann wahrnehmen, wie Gott sich in ihr mitteilt. Zur Schau nach außen gehört die Schau nach innen. Dafür gibt Gott jedem Menschen „Tugendkräfte“. Heute spricht man von Ressourcen. Diese soll der Mensch nutzen, damit er fruchtbar wird – wie die Erde oder wie ein Baum. Hildegard nennt als „Tugendkräfte“ Demut, Liebe, Gottesfurcht, Gehorsam, Glauben, Hoffnung und Keuschheit. Heute können solche Begriffe durch neue stärkende Worte ergänzt werden, die jede und jeder für sich individuell finden kann.

Eigener Stärke nachspüren

Erinnern Sie sich an eine Herausforderung, die Sie bereits gemeistert haben. Welche inneren Kräfte waren für Sie hilfreich? Lassen Sie sich von Hildegards „Tugendkräften“ inspirieren, und benennen Sie Ihre eigenen. Schlüpfen Sie der Reihe nach in die Rolle Ihrer „Tugendkräfte“. Schauen Sie sich selber einmal von außen an: Welche ermutigende Botschaft sprechen Ihnen Ihre „Tugendkräfte“ zu?
Quelle: H. Gosebrink

Kreative Bibelarbeit

Hildegard hat den Mut, die Bibel eigenständig auszulegen. Aus ihren Überlegungen zum Sinn der heiligen Schrift entstehen Bildwerke, die bis heute sinnlich darstellen, in welch komplexen theologischen Systemen sie dachte. Unter anderem entwickelt sie die These, dass Eva vollkommener gewesen sei als Adam. Mit dieser Vorstellung bringt sie in die katholische Kirche eine frauenfreundliche Tradition ein.
Um überhaupt über die Bibel schreiben zu dürfen, beruft sich Hildegard auf eine Stelle aus dem Korintherbrief. Darin spricht Paulus davon, dass Gott das Törichte und das Schwache erwählt hat (1. Kor 1, 25 – 29). Zu Hildegards Zeit galten Frauen als töricht und schwach. In ihren Schriften bezeichnet sich Hildegard deshalb als armes kleines weibliches Gebilde. Allerdings setzt sie auch bewusst eine falsche lateinische Form ein, um ihr Frausein zu betonen. Sie spricht von sich unterwürfig als Mensch, die ungelehrt ist.

Bibelstellen anders entdecken

Welche Bibelstelle lieben Sie? Versuchen Sie, wie Hildegard, selbstständig dem Sinn des Textes näher zu kommen. Nutzen Sie Ihre Kreativität. Eine Möglichkeit:

  • Wählen Sie fünf wichtige Wörter aus der Bibelstelle. Schreiben Sie zu jedem Wort einen Satz.
  • Gehen Sie nach draußen und sprechen Sie beim langsamen, bewussten Gehen immer eines der fünf Wörter.
  • Suchen Sie in der Natur nach Symbolen für Ihre Wörter. Legen Sie zu Hause die Fundstücke vor sich auf den Tisch und versuchen Sie, sie zu zeichnen.
  • Schließen Sie mit einer Bitte, Fürbitte, Klage oder einem Dank. Halten Sie einen Satz Ihres Gebetes auf Ihrer Zeichnung fest.
  • Legen Sie den Zettel ab und beginnen Sie so Ihre persönlich gestaltete Sammlung von Bibelstellen.

 

Zum Weiterlesen:

Hildegard Gosebrink: Hildegard von Bingen. Die Welt ist voll Licht. Informationen – Deutungen – Anregungen, Patmos, 2022, erscheint im August, 20 Euro.
Monika Sadegor: Spuren auf dem Weg. Spirituelle Erfahrungen abseits des Bekannten, Echter, 2022, 19.90 Euro.
Maura Zátonyi (Hg.): Das große Hildegard von Bingen Lesebuch. Worte wie von Feuerzungen, Herder, 2022, 25 Euro.
Hörtipp:
Hildegard hat ihre „Tugendkräfte“ vertont: Ars Choralis Coeln / Maria Jonas: Hildegard von Bingen – ordo virtutum. Raumklang RK 3701, 22,50 Euro (2 CDs), weitere Informationen: www.ars-choralis-coeln.de

Veranstaltungen
Vortrag von Hildegard Gosebrink: „Ich bin ein Mensch, die ungelehrt ist“ – Die Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen (1098 – 1179), Generationenzentrum Matthias Ehrenfried, Würzburg, Dienstag, 22. November,
14.30 Uhr und Martinushaus, Aschaffenburg, Dienstag, 22. November, 19.30 Uhr

Auf den Spuren Hildegards

Wer sich auf Hildegards Spuren begeben will, findet dafür ein geradezu überbordendes Angebot. Es können Lebensorte, Pilgerwege, Kirchen, Kapellen, Museen und verschiedene Einrichtungen besucht werden. Unter Hildegards Namen bietet die Internetseite der Stadt Bingen (www.bingen.de) einen Überblick. KDFB engagiert hat die vier wichtigsten Stationen ausgesucht.

Benediktinerinnen- Abtei St. Hildegard

Abtei St. Hildegard

„Plötzlich ertönt Gesang, lateinisch: Frauenstimmen wie Glockenklang.“ So beschreibt Monika Sadegor ihren Eindruck aus der Abtei St. Hildegard in Eibingen bei Rüdesheim. Die Autorin des Bandes „Spuren auf dem Weg. Spirituelle Erfahrungen abseits des Bekannten“ empfindet den neoromanischen Stil des um 1900 gebauten Kirchenraums als wohltuend. Vor allem, weil dort in der goldenen Apsis ein übergroßer Christus einladend die Arme ausbreitet. Zur Zeit Hildegards wurde Christus nicht als Schmerzensmann, sondern ohne Blut und mit offenen Augen dargestellt. So kommt die Darstellung in der Abtei St. Hildegard der Glaubenswelt der Heiligen nahe. Wenn dann noch glockenhafter Chorgesang erklingt, erinnert das an Hildegards musikalisches Wirken. Denn die Heilige hat liturgische Gesänge komponiert. Die Äbtissin der Abtei St. Hildegard ist die Rechtsnachfolgerin der heiligen Hildegard. Von der Abtei kann man durch die Weinberge zur Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Hildegard in Eibingen laufen.
Mehr unter www.abtei-st-hildegard.de.

Wallfahrtskirche St. Hildegard

Wallfahrtskirche St. Hildegard

Die Wallfahrtskirche St. Hildegard birgt einen Schatz – den vergoldeten Schrein, mit den Gebeinen der Heiligen. Jedes Jahr am Gedenktag Hildegards, dem 17. September, steht er im Mittelpunkt. Nach einem Pontifikalamt um 10 Uhr folgt um 15 Uhr eine Reliquienfeier mit Prozession durch Eibingen, heute ein Ortsteil von Rüdesheim. Um 17 Uhr findet das Fest seinen Abschluss mit der Hildegardisvesper in der Abtei St. Hildegard. Die Wallfahrtskirche St. Hildegard in Eibingen wurde nach einem Brand neu errichtet und 1935 eingeweiht. Sie steht auf dem Klosterbezirk Eibingen, der zweiten Gründung Hildegards. Den Innenraum der Kirche beherrscht ein riesiges Altarbild – Hildegards Vision der Dreifaltigkeit Gottes. In der Mitte der saphirblaue Christus. Zum Rupertsberg und dem Museum am Strom muss man von Rüdesheim mit der Fähre über den Rhein nach Bingen fahren.
Adresse: Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Hildegard, Rüdesheim, Marienthaler Straße 3

Disibodenberg

Disibodenberg

Auf dem Disibodenberg kann man heute noch Ruinen eines Klosters bewundern. Allerdings dürften nur noch wenige Steine aus der Zeit Hildegards stammen. Auf dem Berg, am Zusammenfluss von Nahe und Glan, befand sich schon in keltischer Zeit ein Heiligtum, dann kam Disibod, ein Missionar aus Irland. Klösterliches Leben konnte nach dem Weggang Hildegards 1150 trotz vieler Plünderungen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts fortgesetzt werden. Trotz dieser Verfallsgeschichte hat Hildegard auf dem Disibodenberg vielleicht besondere Spuren hinterlassen. So schreibt Monika Sadegor: „Um mich herum atmete und spürte ich die Erhabenheit der Natur so intensiv, wie ich sie noch nie wahrgenommen hatte. Der Geruch der Gräser, das Rauschen des Laubes, das mir wie das Rauschen des eigenen Blutes erschien, das Grün, das Hildegard als viriditas, Grünkraft, so verehrt hat, die bemoosten Steine. All diese Spuren hatten sich über Jahrhunderte erhalten und bezeugten das ewige Suchen des Menschen nach Gott.“
Mehr unter www.disibodenberg.de.

Kloster Rupertsberg

Ihr erstes eigenes Kloster gründete Hildegard von Bingen zwischen 1147 und 1150 auf dem Rupertsberg. Zuvor war sie fast 40 Jahre lang Nonne in der Frauenklause des Mönchsklosters auf dem Disibodenberg gewesen. Ihre Erstgründung auf dem Rupertsberg, bei der Mündung der Nahe in den Rhein, lag verkehrstechnisch günstiger als ihr Heimatkloster. Das zeigt das Geschick der Heiligen, die mit anderen Klöstern, mit Bischöfen, Päpsten und weltlichen Herrscher*innen in Kontakt stand. Die beeindruckende Größe der Klosteranlage kann heute im Bingener „Museum am Strom“ anhand eines Modells nachvollzogen werden. Die Anlage auf dem Rupertsberg wurde im Dreißigjährigen Krieg zerstört. Ein Fundstück aus den Ruinen ist ausgestellt: der Stein für eine Wasserleitung. Hildegard und ihre Mitschwestern hatten fließendes Wasser im Haus.
Mehr unter  www.bingen.de.

Autorin: Anne Granda

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
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