„Der Artenverlust ist katastrophal“
Die Ökologin und ehemalige Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete tritt als Spitzenkandidatin der Linken bei der Europawahl 2024 an. Im Falle einer Wahl will sie im Umweltausschuss des EU-Parlaments arbeiten. Schließlich engagiert sie sich seit über zehn Jahren für Natur- und Artenschutz. Um den Klimawandel zu stoppen, hält sie globale gesellschaftliche Änderungen für nötig.
Frau Rackete, Sie sind bekannt geworden als Kapitänin der Sea-Watch. 2019 haben Sie gegen den Willen des italienischen Innenministers Matteo Salvini in Lampedusa Flüchtlinge an Land gebracht. Das anschließende Verfahren gegen Sie wurde eingestellt. Wie ist es in Ihrem Leben weitergegangen?
Ich bin Ökologin von Beruf und habe Naturschutzmanagement studiert. Mein Interesse, meine große Passion ist das Polargebiet. Ich war neun Mal in der Antarktis, als Nautikerin, als wissenschaftliche Mitarbeiterin oder als Greenpeace-Aktivistin. Zur Seenotrettung bin ich nur durch Zufall gekommen und hatte nie vor, dort langfristig zu bleiben. Ich möchte mich vor allem für den Naturschutz engagieren. Nach 2019 mache ich im Prinzip das Gleiche wie vorher: Ich widme mich der Ökologie und dem Naturschutz.
Was ist Ihr Hauptanliegen?
Ich versuche, das Thema Natur- und Artenschutz in die Klimabewegung einzubringen. Wir sprechen viel über das Klima, aber zu wenig über den Verlust der Arten. Durch das Zusammendenken der Klimakrise und der Biodiversität habe ich erkannt, dass wir ein vollkommen anderes Wirtschaftssystem brauchen. Weil wir die Ressourcen der Erde übernutzen. Das Ziel muss sein, weniger zu verbrauchen und das, was wir verbrauchen, gerecht zu verteilen. Zehn Prozent der Menschen weltweit besitzen über 80 Prozent des Weltvermögens. Gerade sie verbrauchen wesentlich mehr Ressourcen als der Rest der Menschheit. Gerechte Verteilung ist ein gesellschaftliches Thema, das mit konkreten politischen Vorschlägen wie Vermögenssteuer gelöst werden könnte. Leider wurde die abgeschafft.
Sie sind gerade in Irland. Was arbeiten Sie dort?
Ich arbeite an einer wissenschaftlichen Studie der EU-Kommission zur Biodiversität in der Landwirtschaft in allen EU-Mitgliedsstaaten. Dafür besichtige ich landwirtschaftliche Flächen, wie zum Beispiel Weideflächen, Wiesen und Äcker, und schaue mir an, wie viele verschiedene Wildblumen es noch gibt. Das ist ein Indikator für den Zustand des Bodens und dafür, wie viele Pestizide eingesetzt werden. Bis jetzt habe ich zum Beispiel nur an zwei Orten Orchideen gefunden. Die Landwirtschaft ist sehr intensiv, nicht nur in Irland. Das führt zu großem Artenverlust.
Lassen sich Ihre Beobachtungen aus Irland auf Deutschland übertragen?
Der Artenverlust durch die industrielle Landwirtschaft mit vielen Pestiziden und intensiver Düngung ist in allen europäischen Ländern katastrophal. Man kann das absolut übertragen.
Wie lässt sich die Entwicklung aufhalten?
Wenn wir das Artensterben stoppen wollen, brauchen wir massive Veränderungen in der Landwirtschaft. Wir müssen das Land nachhaltig bewirtschaften, die Böden regenerieren lassen, den Einsatz von Pestiziden verringern, Naturschutz umsetzen. Projekte wie „Fairpachten“ des Naturschutzbunds oder die Gemeinwohlverpachtung der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft zielen darauf ab, neue Pachtverträge nach ökologischen oder sozialen Kriterien zu vergeben. Hier können Kirchen, die etwa drei Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland besitzen, viel erreichen. Es gilt, darauf zu achten, ob die Pächter in einem Biobauernverband organisiert sind, ob sie zertifiziert sind, ob sie lokale Kleinbauern sind oder Naturschutzmaßnahmen auf ihren Flächen umsetzen. Das ist sehr relevant.
Die Bewegung „Letzte Generation“ klebt sich auf die Straße, um gegen die Klimakrise zu protestieren. Ist das der richtige Weg, um Veränderungen zu erreichen?
Es gibt viele Möglichkeiten sich zu engagieren. Man muss sich nicht unbedingt auf die Straße kleben. Die Letzte Generation hat in ihrem Anliegen recht, auch wenn man mit ihren Aktionen nicht übereinstimmen muss. Anders als die Schülerbewegung „Fridays for Future“ zielt sie nicht so sehr darauf ab, dass möglichst viele mitmachen, sondern darauf, viele Medienberichte zu bekommen und das Thema Klima in den Schlagzeilen zu halten. Ich kann verstehen, dass junge Leute Angst haben und auf zivilen Ungehorsam setzen.
Was ist dann der beste Weg sich zu engagieren?
Wir agieren auf einem ungleichen Spielfeld: auf der einen Seite ist die Zivilgesellschaft, die sich für das Gemeinwohl engagiert, auf der anderen stehen große Konzerne, die auf eigene Profite aus sind. Die Lobbys der Ölkonzerne und der Automobilbranche sind mächtig und finanzkräftig. Nichtregierungsorganisationen wie NABU oder Greenpeace haben wesentlich weniger Geld. Deshalb ist es wichtig, sich auch in Institutionen zu engagieren, in Schulen, Unis, Kirchen, Sportvereinen oder bei den Arbeitgebern. Wir brauchen Leute innerhalb der Institutionen, die sich dort für Klimaschutz und strukturelle Veränderungen einsetzen, zum Beispiel für mehr demokratische Transparenz. Für die praktische Umsetzung ist wichtig, dass jede Person etwas beitragen kann. Nichtstun wird dramatische Konsequenzen haben. Jede Handlung ist notwendig.
Sie appellieren, sich einzubringen. Gibt es für Ihr eigenes Engagement einen Schlüsselmoment?
Jeder Mensch kann durch Erlebnisse in seinem Leben das Gefühl bekommen, dass er sich engagieren kann und müsste. Das ist kein Wesenszug. Für mich waren verschiedene Erlebnisse der Auslöser. Zum Beispiel habe ich soziale Ungleichheit besser verstanden, als ich mit 20 Jahren das erste Mal in Bolivien war und dort die Straßenkinder gesehen habe. Kinder, die nicht in die Schule gehen konnten, sondern mit acht Jahren auf der Straße Schuhe putzen oder Süßigkeiten verkaufen mussten, um zum Auskommen der Familie beizutragen. Ähnlich war es mit der Klimakrise. Ich habe auf dem deutschen Forschungsschiff „Polarstern“ gearbeitet. 2011 bin ich zum Nordpol mitgefahren. So konnte ich selbst sehen, wie wenig Eis dort ist. Auch habe ich mit Wissenschaftlern gesprochen, die seit zwei, drei Dekaden dazu forschen und darüber klagen, dass politisch nichts passiert. Dieses persönliche Erlebnis hat mir bewusst gemacht, dass der Klimawandel dramatisch ist und uns jetzt betrifft. Hierzulande hat zum Beispiel die Flutkatastrophe im Ahrtal gezeigt, dass die Klimakrise vor der Tür steht.
Sie waren nicht nur am Nordpol, sondern auch am Südpol, in der Antarktis. Was fasziniert Sie dort?
Die Landschaft einerseits, die Tiere andererseits. Die marinen Säugetiere der Antarktis erholen sich gerade erst langsam. Mich fasziniert es, wie sich, nachdem es das Walfangmoratorium gab, die Wale wieder vermehren. Ähnlich ist es mit Robben nach dem Robbenfangverbot. Es ist wunderbar zu sehen, dass ein Ökosystem sich regenerieren kann, wenn wir es lassen. Jetzt regeneriert sich das Gebiet der Antarktis gerade, andererseits zerstören wir es wieder durch die Klimakrise: Die Ozeane erwärmen sich und versauern, die Gletscher schmelzen. Eine dramatische Veränderung ist im Gang.
Sie haben als nautische Offizierin auf Forschungsschiffen gearbeitet. Warum haben Sie sich damals für einen eher männlichen Beruf entschieden?
Meine Entscheidung hatte nichts mit der romantisierenden Vorstellung von Seefahrt zu tun, sondern knallhart damit, dass es ein Job ist, der relativ gute Berufsaussichten, Tarifverträge und soziale Absicherung mit sich bringt. Die meisten Seeleute kommen aus prekären Verhältnissen und brauchen Geld. Die Entscheidung für die industrielle Seefahrt ist meist eine Entscheidung für ein sicheres Einkommen. Die Seeleute aus den Philippinen oder der Ukraine verkaufen ihre Lebenszeit, weil sie das Fünffache von dem verdienen, das sie auf dem Land verdienen würden. Ich bin durch Zufall in die Forschungs- und Polarschifffahrt gekommen. Dadurch hat mein Leben eine neue Richtung bekommen.
Hat Ihnen Ihre Familie Selbstvertrauen mitgegeben?
Mein familiäres Umfeld war nicht perfekt. Doch mein Vater hat mich und meine Schwester darin bestärkt, technischen Dingen nachzugehen, zum Beispiel, ihm beim Autoreparieren zu helfen. Er hat immer gesagt, Frauen können und sollen auch Ingenieure sein. Meine Schwester und ich sind tatsächlich beide zunächst Ingenieurinnen geworden. Als Ingenieurin muss eine Frau immer deutlich besser sein als ihre männlichen Kollegen, sei es bei Vorschlägen, die man macht, oder bei der täglichen Arbeit.
Und Ihre Mutter?
Meine Mutter arbeitete in der christlichen Straffälligenhilfe beim „Schwarzen Kreuz“. Ihre Arbeit hat mir ein Gefühl gegeben für Arbeit, die nicht wertgeschätzt wird. Wenn man Straftätern hilft, bekommt man viel Gegenwind. Und trotzdem ist es moralisch richtig, hat einen hohen Wert und kann viel Positives bewirken. Da sehe ich eine Parallele zum Engagement für Asylsuchende. Man macht sich nicht nur Freunde, wenn man Menschen unterstützt, die auf der Flucht sind. Aber man darf sich nicht abhängig machen von der Meinung oder der Wertung anderer Menschen.
Dazu gehört auch Mut. Woher haben Sie den 2019 auf der Sea-Watch genommen?
Als Kapitän war ich für die Sicherheit der Menschen an Bord verantwortlich. Ich musste abwägen zwischen dem Leben von Menschen und der Möglichkeit, ins Gefängnis gehen zu müssen. Wenn man erlebt, wie sich die Gesundheit der Menschen an Bord dramatisch verschlechtert, dann wiegt die theoretische Möglichkeit, ins Gefängnis zu gehen, nicht viel. Ich konnte einfach nicht verantworten, dass Leute zu Schaden kommen, weil ich zögere. Das war konsequent, aber nicht zwangsläufig mutig. Es war eine Risikoanalyse, und dabei war mir und der Besatzung damals vollkommen klar, dass wir die Sicherheit der Leute auf dem Schiff nicht mehr garantieren konnten.
Empfinden Sie sich selbst als stark oder mutig?
Bedingt. Ich bin in der Lage zu entscheiden, umzusetzen und Verantwortung dafür zu tragen. Ich habe gelernt, Entscheidungen umzusetzen, die nicht von allen mitgetragen werden. Auch bei Sea-Watch gab es damals unterschiedliche Ansichten, wie man verfahren sollte. Manchmal ist es das Schwierigste, sich innerhalb der eigenen Gruppe abzugrenzen und Kontroversen zu führen.
Das Schwerpunktthema des Frauenbundes heißt in diesem Jahr „Macht.Frauen.Stark.“ Wann fühlen Sie sich mächtig?
In Momenten, in denen ich mich mit mir selbst messe. Bevor ich auf die Antarktisreise gegangen bin, bin ich nach Südamerika gereist und habe eine siebentägige Solowanderung mit Gletscherüberquerung in einem abgelegenen Gebiet gemacht. Zu wissen, es ist allein meine Einschätzung, wie weit ich gehen kann, wann ich den Gletscher überquere und wie meine körperliche Fitness ist, gibt mir ein Gefühl von Selbstermächtigung.
Haben Sie machtvolle Vorbilder?
Keine spezifischen. Es gibt viele beeindruckende politische Persönlichkeiten. Ich finde zum Beispiel die Geschichte der Rosa Parks sehr interessant. Sie war diejenige Frau, die während der Bürgerrechtsbewegung in den USA nicht von ihrem Sitzplatz im Bus aufgestanden ist, um ihn einem weißen Fahrgast zu überlassen. Das hat sie nicht einfach so gemacht, sie war eine geschulte Aktivistin, die strategisch gehandelt hat. Auch heute müssen wir strategisch handeln, um gesellschaftliche Änderungen zu erzielen. Wir müssen verstehen, dass Dinge nicht nur zufällig passieren, sondern dass wir vieles anstoßen können.
Autorin: Katrin Otto
Ein Leben als Aktivistin
Carola Rackete wurde 1988 in Preetz bei Kiel geboren und wuchs in Niedersachsen auf. Sie studierte Nautik in Elsfleth und arbeitete als nautische Offizierin, unter anderem auf dem Forschungsschiff „Polarstern“ des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts sowie auf Schiffen von Greenpeace und des British Antarctic Survey. Von 2015 bis 2018 studierte sie Naturschutzmanagement im englischen Ormskirk. Zwischen 2016 und 2019 engagierte sie sich für Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer. Im Juni 2019 wurde sie als Kapitänin der „Sea-Watch 3“ verhaftet, nachdem sie 53 aus Libyen kommende Flüchtlinge im Mittelmeer aus Seenot rettete und nach wochenlangem Warten auf eine Genehmigung trotz Verbots durch italienische Behörden den Hafen der Insel Lampedusa anlief. Dadurch erlangte sie internationale Bekanntheit. 2021 wurde das Verfahren gegen sie eingestellt. Seit 2019 arbeitet sie an Kampagnen für Klimagerechtigkeit und indigene Landrechte.