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Auf der Suche nach Stille

01.12.2022

Sie ist eine geheimnisvolle Kraft, die sich gerade im Winter entfaltet: Warum sehnen sich Menschen nach Stille, und wie lässt sie sich finden? Eine weihnachtliche Entdeckungsreise.

Advent, du hektische Zeit: Die Tage werden kürzer, die Pflichten mehr. Das Ende des Jahres naht und mit ihm all die Ansprüche, die mit den Feiertagen und dem Jahreswechsel zusammenhängen: Bei Adventsfeiern werden selbst gebackene Plätzchen erwartet, Eltern werden zum Basteln in den Kindergarten einbestellt, Grüße müssen verschickt, Geschenke besorgt werden. Was schenke ich bloß? – die alljährliche Frage ist wieder da. Aber auch: Wen lade ich zu Weihnachten, zu Silvester ein? Gibt es wieder Streit in der Familie, wenn alle zusammenkommen? Was koche ich? Wie gestalte ich das Fest?
Mitten in der Betriebsamkeit ist immer wieder ein Wort zu hören, das so gar nicht zu der Hektik passt – Stille.
„Leise rieselt der Schnee“, „Still, still, still, weil‘s Kindlein schlafen will“, „Advent, du stille Zeit“ tönt es im Gedränge der Weihnachtsmärkte und der Einkaufsmeilen. Doch wer spürt schon etwas davon in dem allgegenwärtigen Lärm? Lange ist es her, dass die „Stille Nacht“ tatsächlich eine solche war. Die Sehnsucht nach ihr spiegelt sich in romantischen Weihnachtsmotiven: Der Stall. Die Krippe.Hirten, die mit Laternen durch den Schnee stapfen. Schwebende Engel. Und ein göttliches Kind, das einen neuen Frühling verspricht, mitten in Kälte und Dunkelheit.

Der Winter lädt zur Stille ein

Der Sehnsucht nach Stille begegnet Giannina Wedde, spirituelle Wegbegleiterin, Künstlerin und Buchautorin, zu jeder Jahreszeit. Sinnsuchende, manche von ihnen völlig erschöpft, besuchen ihre Seminare, vertiefen sich dort in Andacht und Schweigen. Und fragen sich dann, warum sie sich nicht schon früher wohltuende Zeiten der Stille gegönnt haben.
Der Winter kommt diesem Bedürfnis ganz besonders entgegen. „Die dunkle, kalte Jahreszeit hält für uns Schätze bereit, die oft nicht genug gewürdigt werden“, sagt Wedde, die so sehr vom Winter fasziniert ist, dass sie ihm ein poetisches Buch gewidmet hat: „In winterweißer Stille“ (siehe Kasten, Seite 15) ist ihre Liebeserklärung an die eigentlich unpopuläre Jahreszeit. Loslassen, leer werden, warten können, Kräfte sammeln – diese Kunst lehre der Winter, sagt Wedde. Sie schätzt seine meditative Qualität: „Die Bäume lassen ihre Blätter fallen. Es wird dunkler, stiller. Licht, Farben, Schattierungen, Düfte verschwinden.“ Es ist eine Zeit des Brachliegens und eine wortlose Einladung: „Komm in die Stille.“
Denn wenn die Erde sich verschließt und das Licht sich zurückzieht, möchte auch der Mensch es tun. Das aber ist heutzutage schwieriger denn je. Stille ist rar geworden in einer Gesellschaft, die das Aktivsein und die Leistung über alles stellt, ohne Rücksicht auf den natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten. Das Internet macht diesen Anspruch allgegenwärtig. Niemals ist es still auf den Plattformen der sozialen Medien, ob Facebook, Instagram oder Twitter. Immerzu blinken und piepsen die Smartphones, verlangen nach neuem Input, Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter. Vernetzt zu sein, sich zu zeigen, sich zu Wort zu melden, ist angesagt. Die Furcht, digital etwas zu verpassen, ist so weit verbreitet, dass sie einen eigenen Namen erhielt: Auf Englisch, der Universalsprache des Internets, heißt sie „Fomo“, ein Akronym für „Fear of missing out“.
Die Stille ist so gründlich verdrängt worden aus dem Leben, dass sie erst neu herbeigesehnt werden muss.
Sie scheint ein Luxus zu sein, den sich kaum jemand zu leisten wagt – in einer Welt der ständigen Verfügbarkeit, wo die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zunehmend schwinden. Es ist eine Welt, in der unaufhörlich geredet wird, online wie offline. Auf eine Meinung folgt sofort die Gegenmeinung. Dabei vergessen viele, dass „Stille zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört, so wie die Luft zum Atmen“, sagt Giannina Wedde.

In der eigenen Mitte ankommen

Wer aber ist sie, und wie lässt sie sich finden, die verdrängte Geheimnisvolle? Wenn der frisch gefallene Schnee alles Laute dämpft, kehrt sie ein. Ein zugefrorener See, zu Eis erstarrt, spiegelt sie. Wenn sich der Nebel wie eine Hülle über die Landschaft legt, ist sie zu erahnen. Doch: „Die Stille ist weit mehr als die Abwesenheit von Geräuschen“, sagt Wedde. Die Stille, die sie meint, geschieht im Inneren. Sie ist scheu, lässt sich weder einfangen noch machen und ist schwer zu beschreiben. Menschen, die sie regelmäßig aufsuchen, wissen, was durch sie entstehen kann. Nach und nach fühlen sie sich freier, gelassener. „Viele schwierige Situationen entstehen unter anderem durch Überforderung und Erschöpfung“, beobachtet Wedde. Gerade auch in der Weihnachtszeit. Das ließe sich vermeiden, „wenn wir regelmäßig Stilleräume aufsuchen würden“, wie sie sagt. Sie selbst tut es und schöpft daraus „Herzensruhe und Zuversicht“.
Wird die Stille aus dem Leben verdrängt, bleibt das Laute, das Geschäftige, das Fremdbestimmte. Ein Ungleichgewicht entsteht, das letztendlich krankmacht. Schlafstörungen, Herzrasen, Kopfschmerzen können die Folge sein. Unwillkürlich suchen Menschen nach Ausgleich. Wohl deswegen boomen Aufenthalte in Klöstern, Einkehrtage, Yogaseminare, Meditationskurse.
Gestresste Manager geben an der Klosterpforte ihr Mobiltelefon ab, um für viel Geld in einem geschützten Raum Abstand zu nehmen vom beruflichen Druck.
Doch Stille darf nicht als bloße Erholung vom Alltag missverstanden werden. Sie hat eine verwandelnde Kraft. Wer sich entscheidet, sie aufzusuchen, sollte es nicht tun, um sich zu „reparieren“, um weiter in gewohnter Weise zu „funktionieren“, so Wedde. Der Sinn von Stille sei vielmehr, einen Raum zu schaffen, um das eigene Wesen zu erspüren, sich mit sich selbst und der Welt tiefer zu verbinden. Und dann – sein Leben zu ändern. „Stille ist unabdingbar für ein gelingendes Leben“, ist Wedde überzeugt. Wer sie meide, beschneide sich der eigenen Wurzeln. Um sie auszukosten, reicht es, sich für eine Weile an einen ruhigen Platz zu setzen, aufrecht und in gelöster Haltung. Dabei auf den Atem zu achten, wie er kommt und geht. Man kann auch im Sitzen oder im Stehen in die Fußsohlen hineinspüren, dorthin, wo sie den Boden berühren, wo sie auf der Erde ruhen.

Die Gedanken bändigen

Du kannst Dich hinsetzen oder hinlegen. Lege Deine Handflächen auf Deine Beine.
Fokussiere entspannt auf Deine natürlichen Atemzüge, und versuche, jeder kleinen Bewegung im Atemzyklus zu folgen: zum Beispiel den Bewegungen Deines Bauchs mit jeder Ein- und Ausatmung. Wenn Du jetzt merkst, wie sich Dein Geist in Gedanken an Vergangenes verliert – Grübeleien, konkrete Ereignisse, schöne Erinnerungen –, klopfe mit den Fingerspitzen leicht auf dein linkes Bein. Auf diese Weise holst du den Fokus auf Deine Atemzüge zurück. Wenn Du andererseits merkst, dass Dein Geist sich in Zukunftsgedanken verliert – in etwas, das noch nicht passiert ist, in Unruhe, Fantasien –, klopfe leicht mit den Fingerspitzen auf Dein rechtes Bein. So holst Du den Fokus auf den gegenwärtigen Moment zurück. Wenn andere Gedanken, weder Zukunft noch Gegenwart betreffend, in den Fokus rücken, flüstere leise das Wort „Gedanke“, um den Wirrwarr aufzulösen. Sei nicht niedergeschlagen oder verwundert, wenn Du zu Beginn oft klopfen musst.
Sei gut zu Dir, wir üben nur.

 

Magnus Fridh: Stille finden in einer hektischen Welt.
Ein Wegweiser zu Gelassenheit und innerer Ruhe. Rowohlt, 2021.

Lärmende Gedanken aushalten

So einfach kann es sein, zugleich ist es schwer: Schweigend mit sich allein zu sein, sich selbst zu begegnen, nüchtern und ungeschönt, das kann erst mal recht unangenehm werden. Denn es wird zunächst laut im Inneren. Dinge, die zu erledigen sind, melden sich. Aber auch Erinnerungen, Wünsche, Pläne brausen durch den Kopf und sorgen für mentalen Lärm, der kaum zu bändigen ist. Der meditierende Mensch ist sich selbst ausgeliefert. Verdrängter Schmerz kann aufwachen. Trauer, Wut, Ängste tauchen auf. Oder auch Langeweile. Für Ungeübte mag Stille eine Qual sein. „20 Minuten können sich wie Stunden anfühlen“, sagt Wedde. Um den inneren Sturm durchzustehen, empfiehlt sie, alles, was hochkommt, freundlich zu bemerken, es nicht zu bewerten. Etwa so: „Aha, da kommt diese Kindheitserinnerung, da meldet sich meine Verspannung im Nacken, jetzt werde ich traurig …“. Wohlwollend nimmt man alle Gedanken und Empfindungen zur Kenntnis, lässt sie vorüberziehen und kehrt immer wieder sanft zur Atmung zurück.
Einatmen. Ausatmen. Stille.
Wer das regelmäßig praktiziert, kann irgendwann eine „innere Weite und Tiefe“ erfahren, wie es Giannina Wedde nennt. Menschen, die sich darauf einlassen, erfahren, dass sie mehr sind, als die eigene Leistung oder gesellschaftliche Rolle. „Die Stimme der inneren Weisheit wird hörbar, sie wartet am Herzensgrund – als Frage, Wissen, Gestaltungswunsch. Alles, was in uns an schöpferischer Kraft liegt, braucht die Stille“, sagt Giannina Wedde.

Weihnachten anders feiern

Die Zeit um die Jahreswende wurde schon immer als eine stille Zeit wahrgenommen: Advent, Weihnachten, die Tage zwischen den Jahren. Wenn die Natur brachliegt, schweigt und wartet, ist es nicht schwer, es ihr gleichzutun. Wer sich mitnehmen lassen möchte, sollte sich vom allgegenwärtigen Weihnachtstrubel nicht beirren lassen. Giannina Wedde rät: „Wenn Sie spüren, dass Sie etwas anderes brauchen, verweigern Sie sich!“ Man muss nicht auf den Weihnachtsmarkt gehen, bei Adventspartys mitmachen, zehn Sorten Plätzchen backen, nur, weil man das schon immer so gemacht hat. Stattdessen kann Stille einziehen. Dann kann es geschehen, dass sich leise und unauffällig das Geheimnis der heiligen Weihnacht offenbart – das Geheimnis der Menschwerdung. Auch der eigenen. „Die Menschwerdung des Sohnes Gottes auf Erden können wir auch auf uns selbst beziehen“, sagt Wedde. Denn: „Auch wir sind
Erscheinungen des Göttlichen und eingeladen, auf dieser Erde anzukommen – wirklich anzukommen.“
Dabei gehe es um das Ankommen im Moment, im eigenen Körper, in der Tiefendimension des eigenen Lebens, mit allem, was es ausmacht, auch dem Schmerz und der Endlichkeit. Ein solcher Zugang zu Weihnachten ist der Tradition der christlichen Mystik eigen. Bereits Meister Eckhart, der berühmte Mönch, Theologe und Philosoph des späten Mittelalters, sagte: „Wir feiern Weihnachten, auf dass diese Geburt auch in uns geschieht. Wenn sie nicht in mir geschieht, was hilft sie mir dann?“
Karl Rahner, einer der großen Theologen des 20. Jahrhunderts, dachte viel über Weihnachten nach. In seinen Texten und Predigten ermutigte er dazu, es als „Mysterium der Heiligen Nacht“ zu feiern. Das hieß für ihn, an Weihnachten die nächtliche Stille ins Innere hereinzulassen und die „irdischen Lichter“ für eine Weile auszulöschen, um die Sterne am Himmel zu sehen. Er schrieb von der „schweigenden Nacht des Herzens“, offen für die „unsagbare, wortlose Nähe Gottes, die durch ihr eigenes Schweigen spricht“.
Ob jahrzehnt- oder jahrhundertalt, Gedanken wie diese sind zeitlos, bleiben heute aktuell, wie sie damals schon waren. Denn die Sehnsucht nach innerer Stille, das Wissen um ihre heilsame Kraft, gehört zum Menschsein. Schritt für Schritt lässt sich die Geheimnisvolle, die Zugang zu Verborgenem öffnet, in den Alltag holen. Den vielen Pflichten zum Trotz. Warum nicht gleich anfangen?

 

Der Stille die Tür öffnen

Es muss nicht ein halbstündiges Schweigen auf dem Meditationskissen sein, um der Stille die Tür zu öffnen. Man kann sich einfach für einige Minuten in eine leere Kirche setzen. Oder in der Früh, mit dem Kaffee in der Hand, eine Weile zum Fenster hinausschauen. Der Klang einer Klangschale, die man ausklingen lässt, führt in die Stille. Auch ein Spaziergang, ohne Absicht, ohne Ziel.Einfach den einen Fuß vor den anderen setzen, immer wieder, bis im Inneren alles ruhig ist.
Ganz besonders schätzt Giannina Wedde das Herzensgebet, eine uralte Gebetsweise, die schon die Wüstenmütter und -väter des vierten Jahrhunderts praktizierten. Dabei wählt man sorgfältig einen Satz aus, etwa aus der Bibel, und wiederholt ihn im Inneren. Es kann auch nur ein Wort oder ein Begriff sein, klassischerweise der Name Jesus Christus. Die Wahl ist frei. „Das Entscheidende ist, dieses Wort, diesen Satz im Herzen zu wiegen, sich mit dem Gebet auf eine Beziehung einzulassen und dabeizubleiben“, sagt Wedde. Auch wenn zunächst ungewiss sein mag, wohin es führt.
Nicht umsonst wird diese Form des fortwährenden Betens in allen großen Religionen praktiziert, ist sie doch ein Weg, der nach und nach in die Stille führt, auch und gerade mitten im Alltag. Das kann heutzutage im Gedränge am überfüllten Bahnhof sein oder in der Schlange an der Supermarktkasse.
Welcher Weg in die Stille auch immer gewählt wird – vielleicht entsteht in solchen Zwischenräumen allmählich eine leise Verwandlung und auch eine Ahnung von der „stillen Weihnacht“, deren Zauber sich jenseits vom Gerede und Getue rund um das Fest
entfaltet. Karl Rahner beschreibt sie so: „Es müsste uns zumute sein, wie wenn wir in einer klaren Winternacht unter den Sternenhimmel treten: Ferne grüßt noch das Licht der menschlichen Nähe und heimatlichen Geborgenheit; aber über uns steht der Himmel, und wir
empfinden die schweigende Nacht, die uns sonst unheimlich und erschreckend vorkommen mag, als die stille Nähe des unendlichen Geheimnisses unseres Daseins, das bergende Liebe und weite Größe zugleich ist.“

Autorin: Maria Sileny

Zum Weiterlesen

Giannina Wedde: In winterweißer Stille. Ein Begleiter durch die dunkle Jahreszeit.
Vier-Türme-Verlag, 2021, 18 Euro.

Karl Rahner: Von der stillen Weihnacht unseres Herzens.
Matthias Grünewald Verlag, 2021, 10 Euro.

Magnus Fridh: Stille finden in einer hektischen Welt. Ein Wegweiser zu Gelassenheit und innerer Ruhe.
Rowohlt, 2021, 10 Euro.

Andreas Ebert, Peter Musto: Praxis des Herzensgebets: Einen alten Meditationsweg neu entdecken.
Claudius Verlag, 2019, 19,90 Euro.

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