Annette Schavan: „Es geht um soziale Verantwortung“
Annette Schavan war vier Jahre lang deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl. Die ehemalige Landes- und Bundesministerin über das Pontifikat von Franziskus, warum Papst Leo XIV. ein passender Nachfolger ist und wieso sie Streit mag. Von Katrin Otto
Frau Schavan, Sie waren von 2014 bis 2018 Botschafterin beim Heiligen Stuhl. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Papst Leo XIV. gewählt wurde?
Das war ein ganz besonderer Abend. Ich war in Ulm, bei der Uraufführung der Oper eines französischen Komponisten über das Leben des heiligen Franziskus. Kurz vor Beginn der Vorstellung – es war genau 19.23 Uhr – trat Papst Leo auf die Loggia. Ich wurde sofort vom SWR um ein Statement gebeten. Ich sagte: „Das geht jetzt nicht. Der Bischof ist auch hier – wir äußern uns gemeinsam in der Pause.“ Das war ein aufregender Moment – die Papstwahl und die Premiere eines beeindruckenden Werkes.
War die Wahl von Robert Francis Prevost für Sie eine Überraschung?
Eher nicht. Ich war beim Begräbnis von Papst Franziskus in Rom. Unter Insidern kursierte der Name Prevost bereits deutlich als Favorit. Die Predigt von Kardinal Giovanni Battista Re beim Requiem setzte den Ton für das Konklave – voller Würdigung für das Pontifikat von Franziskus, seiner Parteinahme für die Armen, seines Plädoyers für die Barmherzigkeit. Es war klar: Niemand würde gewählt werden, der diese zwölf Jahre einfach beiseitewischen will. Die deutsche Debatte – wird es ein rechter oder linker Papst? – wirkt in Rom oft provinziell. In der klerikalen Welt gibt es keine Rechten oder Linken. Ist jemand links, nur weil er sich für die Armen einsetzt?
Der Name Prevost war vorher nicht in der Öffentlichkeit präsent.
Das war auch gut so. Es heißt ja: „Wer in der Zeitung steht, geht als Papst ins Konklave – und kommt als Kardinal wieder heraus.“ Wenn jemand von den Medien nicht erwähnt wird, ist das eher von Vorteil. Ich hörte immer wieder: Parolin oder Prevost. Am Ende fiel die Entscheidung rasch – und mit einem klaren Ergebnis. Ich halte ihn für eine kluge Wahl: ein Mann, der geprägt ist von seinem langjährigen Aufenthalt in Peru als Priester und Bischof an der Seite der Armen, also für Kontinuität zu Franziskus steht, und der zugleich Erfahrung als Behördenleiter im Vatikan hat. Das ist wichtig. Denn auch die römische Kurie ist eine internationale Gemeinschaft. Die Stationen seines Weges zeigen: Franziskus hat ihn gezielt gefördert – zuletzt ernannte er ihn zum Kardinalsbischof. Ich erwarte, dass er Franzikus’ Werk fortführt, aber er wird auch seine eigenen Akzente setzen. Schon jetzt ist deutlich, dass das Friedensthema für ihn zentral ist. Kein Mann der scharfen Worte – ein Brückenbauer. Das sagen auch die deutschen Bischöfe, die ihn in Rom zum Synodalen Weg gesprochen haben.
Wie blicken Sie auf das Pontifikat von Franziskus zurück – war er mutig oder vorsichtig?
In dem, was er gesagt, getan und wie er gelebt hat, war er mutig – konsequent auf der Seite der Armen. Gleichsam als Gewissen in einer globalen Welt.
Er hat zuletzt viele Frauen in Leitungspositionen berufen. War das Symbolik oder echter Wandel?
Das Pontifikat hat einen Wandel eingeleitet – und doch ist dieser unvollendet. Vor Franziskus hieß es: Das Thema ist beendet, darüber reden wir nicht mehr. Johannes Paul II. hatte endgültig entschieden, Frauen werden nicht geweiht. Franziskus hat den Dialog wieder eröffnet. Seine Kritik am Klerikalismus und die Berufung von Frauen in Spitzenpositionen in Rom zeigen: Führungsaufgaben waren für ihn nicht an die Weihe gebunden. Die Chefin des Vatikanstaats ist heute eine Frau – das ist Kulturwandel. Ich bin sicher: Leo XIV. wird diesen Weg fortsetzen. Die Frage ist: Kommt es zu Fortschritten beim Zugang aller zu allen Sakramenten? Das wird eine Zerreißprobe.
Wie war Ihre eigene Erfahrung als Frau im Vatikan?
Ich war die erste deutsche Botschafterin, aber unter 80 Kolleg*innen gab es 14 Frauen – eine starke, selbstbewusste Gruppe. Und wir hatten Einfluss. Als der Papst einmal sagte, Europa sei eine „alte, unfruchtbare Großmutter“, ist eine chilenische Kollegin – selbst mehrfache Großmutter – zu ihm gegangen und hat sich beschwert. Man konnte mit dem Papst reden. Die vier Jahre in Rom und dieses Pontifikat haben mich in meinem Selbstverständnis als katholische Christin sehr inspiriert. Das wurde mir noch mal bewusst, als ich am Tag vor dem Begräbnis am offenen Sarg Abschied nahm.
Manche sagen, die Reformen gingen nicht weit genug.
Diese Kritik zielt meist auf innerkirchliche Belange. Ich blicke eher auf die weltweite Wirkung. Jeder Papst steht inmitten einer Kirche mit enormen Ungleichzeitigkeiten. Was den einen zu wenig ist, ist den anderen zu viel. Diese Spannung bleibt auch für Leo XIV. bestehen. Vielleicht ist das die größte Bürde, die ein Papst trägt.
Was meinen Sie mit „Ungleichzeitigkeit“?
In Afrika etwa werden viele Themen völlig anders gesehen als in Europa. Das betrifft eigentlich alle Reformen, über die wir hier sprechen: die Rechte von Frauen, gleichgeschlechtliche Segensfeiern. Und dennoch: Auch das ist katholische Kirche. Der Papst muss – salopp gesprochen – den Laden zusammenhalten. Allen Kulturen und Überzeugungen gerecht zu werden, ist wahnsinnig schwer. Ich glaube, die zentrale Frage der nächsten Jahre lautet: Was kann Rom für alle entscheiden – und was lässt sich an die einzelnen Teilkirchen delegieren? Vielleicht können Fragen, die nicht den Kern des Glaubens betreffen, unterschiedlich beantwortet werden. Ich bin sicher: Die Weltsynode, die bis 2028 verlängert wurde, wird sich genau damit befassen.
Was sind Fragen, die die Kirche weltweit beantworten kann?
Sozialethische Fragen. Leo XIII. gab mit der Enzyklika Rerum Novarum Orientierung in Zeiten der Industrialisierung, in denen wie heute eine große Verunsicherung herrschte. Franziskus tat das mit der zweiten Enzyklika, Laudato sì. Ein weltweit mit großem Respekt aufgenommenes Dokument zur Bewahrung der Schöpfung, das sich nicht in allgemeinen Theorien ergeht, sondern ein neues Kapitel in der katholischen Sozialethik ist, in dem von Gemeinschaftsgütern wie Luft, Wasser und natürlichen Ressourcen die Rede ist, die nicht von den einen auf Kosten der anderen zerstört oder verbraucht werden dürfen. Auch Leo XIV., der den Namen nicht gewählt hätte, wenn nicht der Bezug zum XIII. gewollt wäre, tritt das Amt an in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft vor großen Herausforderungen steht. Mit der Namenswahl und dem ersten Satz auf der Loggia, dem Friedensgruß des Auferstandenen, wurde deutlich: Es geht um soziale Verantwortung.
Papst Leo XIV. hat sich für humanitäre Hilfe in Gaza ausgesprochen. Welche Rolle kann ein Papst in internationalen Krisen spielen?
Eine bedeutende. Johannes Paul II. war ein Beispiel dafür – seine wenigen Worte, „Fürchtet euch nicht“, während seines Polenbesuchs ermutigten die Solidarnosc und hatten enorme Wirkung. Franziskus hat gegen Ende seines Pontifikats schmerzlich gespürt, wie wenig ihm manchmal zugehört wurde. Und doch: 182 Staaten unterhalten diplomatische Beziehungen zum Heiligen Stuhl – darunter viele nichtchristliche Länder. Die Kirche ist in allen Kontinenten präsent mit Schulen, Kliniken, sozialen Diensten. Keine andere Organisation ist so tief in der Gesellschaft verankert – und besitzt so viel Wissen. Die älteste Diplomatie der Welt ist in Zeiten von Sanktionen, Strafzöllen und Aufrüstung ein hohes Gut.
In Deutschland steigt der Frauenanteil in kirchlichen Führungspositionen. Wird Papst Leo offen sein für den deutschen Reformweg?
Erste Begegnungen mit ihm noch als Kardinal zeigten, dass er ein Mann ist, der zuhört und verbindlich ist. Deutschland sollte sich nicht einreden, in Rom ungeliebt zu sein. Aber klar ist: Unter Franziskus stand Europa weniger im Fokus. In seinen Reden war seine Skepsis gegenüber dem satten, reichen Kontinent spürbar. Wohlstand wie nirgends in der Welt, aber kirchlich nicht viel los, sagen die Südamerikaner, die Afrikaner, auch manche Asiaten. Dort nimmt die Zahl an Katholiken zu, bei uns geht sie zurück. Deshalb erwarten sie, dass sich die Erneuerung der Kirche nicht einfach orientiert an dem, was in Europa gedacht wird, sondern auch ihre Perspektive ernst nimmt. Sie wollen sich von unserer Reformagenda nicht wieder kolonialisieren lassen. Europa kann deshalb nicht so tun, als hätte es ein Erfolgsrezept für alle.
Außerhalb Europas ist die Rolle der Frau in der Kirche aber oft sehr traditionell.
Das ist für die Europäer eine Demütigung. Nach dem Motto, wir sind doch so fortschrittlich mit unserer kulturellen Entwicklung und unseren Idealen. Doch Weltkirche ist nicht nur Europa. In Afrika, Asien, Lateinamerika gibt es starke Frauen, die viel bewegen und Dinge ähnlich sehen wie wir. Auch hierzulande denken viele Frauen nicht wie der Frauenbund. Würde plötzlich am Sonntag eine Frau am Altar stehen, wüsste ich nicht, wie viele Leute aufstehen und rausgehen würden. Wir müssen realistisch sein und unsere eingeschränkte Sichtweise erkennen. Der Frauenbund darf sich nicht nur auf Frauenfragen innerhalb der europäischen Kirche konzentrieren – das wäre zu eng gedacht. Er ist gegründet worden, um gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. In der Welt stehen immer mehr Zeichen auf Konfrontation. Die Zahl der Autokraten und der Menschen, die kein Gespräch mehr suchen, nimmt zu. Das spiegelt sich auch in der Kirche wider. Dabei sollte die Kirche ein Beispiel für wirksamen Dialog sein. Ein Gegenentwurf zu dieser Konfrontation. Wir laufen in Richtung einer Situation der Unversöhnlichkeit, der Unordnung, des Abbaus regelbasierter Ordnung.
Welche Reformen braucht es für mehr Relevanz der Kirche?
Der wunderbare Religionssoziologe José Casanova hat schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, dass Institutionen, die Gleichberechtigung nicht schaffen, keine Zukunft haben. Aber auch dort, wo Gleichberechtigung formal verwirklicht ist, mit Frauen am Altar, Bischöfinnen und Segen für alle, wie in der evangelischen Kirche, gibt es Probleme. Diejenigen, die die Glaubwürdigkeit des Papstes an der Zulassung der Frauen zur Weihe festmachen, sind weltweit betrachtet eine Minderheit. Wir leben in Blasen – global und lokal – die überzeugt sind, recht zu haben und deshalb mit anderen gar nicht reden. In unseren Städten werden statt interkultureller Gottesdienste sonntags immer schlechter besuchte Messen für jede Landsmannschaft abgehalten. Wir leben ja noch nicht mal vor Ort den Gedanken der vielen Kulturen jenseits nationaler Grenzen.
Was müsste sich konkret ändern?
Die Erneuerung muss von unten kommen. Weniger Bürokratie, mehr Subsidiarität. Bis 1950 floss die Kirchensteuer in die Gemeinde, nicht ins Ordinariat. Christ*innen vor Ort sollten selbst bestimmen, welche Botschaft für sie relevant ist. Das ist für mich der wichtigste Erneuerungsimpuls.
Wenn Sie Papst Leo XIV. treffen könnten – was würden Sie ihm sagen?
Ich würde ihm wünschen, dass ihm zugehört wird. Und dass er Erneuerung und Weiterentwicklung mit Einheit verbinden kann. Dass in einer Weltsynode deutlich wird, dass Vielfalt ein Schatz, eine positive Kraft und Einheit nicht Uniformität ist. Und dass er am Ende seines Pontifikats als Papst des Friedens erinnert wird.
Sie waren 25 Jahre Politikerin. Wie würden Sie Frauen ermutigen, in die Politik zu gehen?
Ich habe die guten Jahre erlebt, als eine Frau Kanzlerin war. Das war auch gut für uns Frauen. Im Kabinett wurden wir das Girlscamp genannt. Heute sehe ich in den Volksparteien CDU und SPD eher Rückschritte. Damals herrschte auch noch ein anderes Klima, viel weniger aufgeregt als heute. Politik ist nichts für zarte Gemüter. Man muss Streit mögen. Ich gebe zu, ich mochte ihn. Mir hat das keine schlaflosen Nächte bereitet, weil ich wusste: Es geht nicht um mich, sondern um das Amt. Man ist Projektionsfläche. Wer heute in die Politik geht, der muss sich erst recht da-rüber im Klaren sein, dass das mit Auseinandersetzungen verbunden ist. Aber wenn niemand mehr bereit ist, Projektionsfläche zu sein, ist das schlecht für die Demokratie, denn sie lebt vom Streit.
Nicht jede*r mag aber Streit. Wie sind Sie aufgewachsen, gab es eine Streitkultur in Ihrer Familie?
Ich bin in einer Familie großgeworden, in der niemand Politik gemacht hat. Mein Vater war still, meine Mutter temperamentvoll – aber gestritten wurde nie vor uns Kindern. Mein Vater war ein wunderbarer Vater, aber er war kein Mensch des öffentlichen Lebens. Mit ihm konnte man drei Stunden im Garten arbeiten, und er sprach dabei ganz wenig. Aber die Gestik und die Art, die Atmosphäre – das war Geborgenheit. Ich habe so Vertrauen gelernt und dass ich mich auf andere verlassen kann. Wir Kinder der 1950er-Jahre waren Produkte des Optimismus unserer Eltern. Mein Vater hat beispielsweise zu meiner Mutter gesagt: „Jetzt haben wir ein Haus gebaut auf einer großen Wiese; nun müsste doch noch mal ein kleines Kind her.“ Dann kam mein zehn Jahre jüngerer Bruder. Meine Eltern gehörten zu einer Generation, die überzeugt war: Wir schaffen das; es soll wieder gut sein. Sie waren authentische Menschen mit einem Bruchteil des Wohlstands, der heute selbstverständlich ist. Es gab andere Quellen des Glücks als materiellen Konsum.
Was gibt Ihnen Kraft?
Mein Glaube – er schenkt mir Grundvertrauen und Zuversicht.

