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Starke Mädchen

30.03.2020

„Das Mädchen“ gibt es nicht. Mädchen sind laut und leise, waghalsig und bedächtig. Was Eltern tun können, damit ihre Töchter selbst herausfinden, was sie stark macht – jenseits von Rollenklischees.

Als Ella mit drei Jahren in den Kindergarten kam, war ihre Lieblingsfarbe Blau. So blau wie ihr Fahrradhelm, den sie sich ausgesucht hatte, oder der Roller, den sie von ihrem vier Jahre älteren Bruder Hannes übernommen hatte. Für ihre Bilder suchte sie sich oft verschiedene Blau- und Grüntöne aus. „Nicht schön“, sagten die größeren Mädchen in ihrer Kindergartengruppe. Zu wenig Pink, zu wenig Lila und kein Glitzer. Durchaus eine schmerzhafte Erfahrung für die Dreijährige. Mädchen mögen also Rosa, das prägte sich ihr ein. Zwei Jahre später als Vorschulkind schwimmt Ella nun häufig mit auf der rosa Welle um sie herum. Auch wenn ihre Eltern keine großen Fans von zu viel Pink im Leben ihrer Tochter sind.

Getrennte Spielzeugwelten für Mädchen und Jungen

Wer sich im Garderobenraum einer Kindertagesstätte umschaut, hat meist keine Mühe zu erkennen, welcher Platz einem Mädchen und welcher einem Jungen gehört: Ein Blick auf Hausschuhe, Rucksack und Matschhose genügt. Geschlechtsspezifische Ausstattung sorgt dafür, dass die Eltern, wenn sie Sohn und Tochter haben, alles zweimal kaufen müssen, und spült den Herstellern viel Geld in die Kassen. Viele Eltern haben heute den Anspruch, Mädchen und Jungen gleich zu erziehen, damit die Heranwachsenden später das Gleiche erreichen und ihre Talente frei entwickeln können. Diesem elterlichen Anspruch steht das Angebot im Spielwarenladen entgegen. Dort ist die Ausrichtung eindeutig: Das für Mädchen entwickelte Spielzeug bedient häufig die Schublade Freundschaft, Kümmern, Beauty und Fantasie. Bei den Jungen herrscht dagegen die Suche nach Abenteuer, Konkurrenz, Konstruieren oder Technik vor.

Viele reden mit, wenn es darum geht, wie ein Mädchen sein soll

Wenn Ella größer wird, werden es nicht mehr Feen und Einhörner sein, die um ihre Gunst buhlen, sondern die Sozialen Medien werden ganz stark mitmischen bei der Frage, wie ein Mädchen sein sollte, wie geschminkt, wie gekleidet, wie dünn. „Mädchen werden heute mit einem Sammelsurium von Vorstellungen konfrontiert, wie sie zu sein haben – sei es durch Spielzeuge, Kinderbücher, das Verhalten Erwachsener, die Medien. Bei den älteren Mädchen ist es dann sehr stark mit dem Aussehen verknüpft, wie ein Mädchen zu sein hat. Das macht unglaublich viel Druck. Und es führt dazu, dass die Zeit für andere Interessen knapp wird und man vieles gar nicht kennenlernt, weil man zu sehr mit Äußerlichkeiten befasst ist“, sagt Petra Focks. Die Professorin lehrt an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Dort bildet sie Frauen und Männer aus, die in Tagesstätten mit Kindern arbeiten werden. Eine geschlechterreflektierte Pädagogik liegt ihr besonders am Herzen. „Es geht dabei nicht um einen Rollentausch oder darum, dass man sagt, Mädchen müssen jetzt so sein wie Jungen oder umgekehrt – überhaupt nicht. Das ist es nicht. Entscheidend ist, dass wir den Kindern ein Repertoire aufmachen, aus dem sie wählen können und bei dem sie sich ausprobieren können. Verschiedene Spiele und Handlungsmöglichkeiten, unterschiedliche Sportarten. Damit die Kinder entscheiden können, was entspricht mir, was macht mir Spaß, was passt zu mir.“ Dabei genüge es aber nicht, dem Mädchen einen Technikbaukasten hinzustellen, so die Hochschullehrerin. Es geht darum, tatsächlich zusammen mit den Kindern Dinge auszuprobieren, die nicht typisch für das Geschlecht sind. Studien zeigen nämlich, dass sowohl in der Kita als auch bei den Eltern solche Aktivitäten selten Raum finden.

Was lebe ich meiner Tochter vor?

Deshalb macht es für Eltern Sinn, die eigenen Verhaltensweisen und Vorstellungen zu überdenken. Kinder nehmen die Rollenverteilung um sie herum sehr bewusst wahr. Und sie meißeln sie erst mal in Stein, weil sie Stereotype noch als Wahrheit aufnehmen. Eine differenzierte Sicht entsteht erst später. Erlebt Ella, wie ihre Mutter am Computer an Excel-Tabellen arbeitet und vor technischen Alltagsdingen nicht kapituliert, kommt ihr das selbstverständlich vor. Wenn in ihren Bilderbüchern viele Männer im Cockpit, aber keine Pilotinnen vorkommen, auch. Kinder sehen, dass in ihrem Kindergarten oder ihrer Grundschule so gut wie ausschließlich Frauen arbeiten. Gleichzeitig erkennen sie, in welchen Bereichen Männer vorherrschend sind.

Wer den Klischees entspricht bekommt mehr Bestätigung

Dazu kommt, dass das Geschlecht mehrere Ebenen hat: Neben der körperlichen Ebene gibt es auch ein bestimmtes Repertoire an Verhaltensweisen, die als männlich oder weiblich gelten. Entspricht mein Verhalten den Erwartungen, bekomme ich leichter Anerkennung, als wenn das nicht der Fall ist. Wenn Ella ihr rosa Pferdekleid anzieht und dann von der Nachbarin mit einem „Du hast aber ein hübsches Kleid an“ begrüßt wird, wird sie sich bestätigt fühlen. „Daneben gibt es aber noch eine psychische Ebene von Geschlecht“, erläutert Petra Focks, „da geht es um die Geschlechtsidentität. Wie baue ich mir mein Mädchensein zusammen? Was gehört dazu, ein Mädchen zu sein? In bestimmten Entwicklungsphasen, beispielsweise im späten Kindergartenalter, wollen sie dann ganz stark zeigen, ich bin ein richtiges Mädchen oder ein richtiger Junge. Dann greifen sie auf Haare, Schmuck, Kleidung, Farben und Spielsachen zurück, weil sie ihre geschlechtliche Identität noch nicht sicher verfügbar haben. Viele Erwachsene denken dann, dass ein Mädchen Barbiepuppen mag, sei genetisch bedingt. Das ist aber nicht der Fall.“

Eltern haben die Aufgabe, die Bandbreite zu erweitern

Für Eltern bedeutet das: Ruhe bewahren, wenn Mädchen in der Rosa-Glitzer-Phase schweben oder in der Pubertät den kürzesten Rock mit der grellsten Schminke kombinieren. Denn es ist ein Stück weit normal, dass sie das tun, und gehört zu ihrer Identitätsentwicklung. Aber: „Das heißt nicht, dass ich das dauernd bestärken sollte, sondern dass ich die Bandbreite aufmache. Dass ich Strukturen, die Kinder in diesem Alter durchaus brauchen, über andere Aspekte schaffe – also über Sicherheit und Rückhalt. Aber nicht über: ,Weil du ein Mädchen bist, findest du das toll.‘ Und bei diesem starken Hang zu Mädchenspezifischem immer mal wieder zu signalisieren: Das ist nicht nötig so. Ähnlich wie beim Essen. Wenn die Kinder immer nur Spagetti essen wollen, sagen wir ja auch: ,So, jetzt bekommst du noch etwas Tomatensalat dazu.‘ Wir versuchen, das zu erweitern. Und irgendwann ist es tatsächlich so weit, dass sie etwas anderes probieren möchten. Diese Erweiterung ist die Aufgabe der Eltern, ohne dass wir dogmatisch damit umgehen sollten“, betont Petra Focks.

Mädchen spüren lassen, wie stark sie sind

Eltern haben die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass Mädchen sich ausprobieren können. Damit sie spüren können, wie stark sie sind. Was es mit ihnen macht, die gefühlt weiteste Fahrradtour aller Zeiten zu schaffen. Und im besten Fall das Fahrrad vorher auch noch selbst repariert zu haben. Eltern können Töchter unterstützen, mädchenspezifisches Spielzeug auch mal links liegen zu lassen. Im Kindergartenalter haben Mädchen durchaus an gewöhnlichen Legosteinen oder einer Holzeisenbahn Freude. Sie brauchen dafür keine rosa Sonderedition.

Frauenbilder in den Medien gemeinsam besprechen

An einem Punkt müssen Eltern nach Ansicht von Petra Focks aber immer wieder in Kauf nehmen, dass ihre Töchter sie extrem doof finden. Nämlich dann, wenn sie versuchen, den Medienkonsum ihrer Töchter im Blick zu behalten. Focks meint, es braucht auch dafür einen geschlechterreflektierten Blick. „In den Medien sind die Rollen sehr traditionell besetzt. Es gibt zwar auch die YouTuberin, die kritisch mit sozialer Ungleichheit in Geschlechterverhältnissen umgeht. Aber für die meisten Kinder und Jugendlichen ist der geschlechtstypische Aspekt sehr viel präsenter. Medien sind Miterzieher. Ihre Rolle kann man gar nicht überschätzen.“

Eltern sollten also am besten mit den Kindern gemeinsam die Fernsehsendung oder das Video ansehen und ihre Vorbehalte gegenüber den Frauenbildern, die da transportiert werden, ruhig mit dem Nachwuchs besprechen. Denn eines lernen Mädchen nach Ansicht von Petra Focks heutzutage nicht genügend kennen: ganz entspannte Frauen. Doch die brauchen sie in echt und am besten in der eigenen Familie. „Es ist wichtig, dass Mädchen auch sehen, dass Frauen nicht immer versuchen, allem und allen gerecht zu werden, sondern entspannt sind und auch mal fünf gerade sein lassen.“

aus: KDFB engagiert 4/2020
Autorin: Claudia Klement-Rückel

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