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Familien allein zu Haus

KDFB engagiert 6/2020

28.05.2020

Längst noch nicht alle Kinder und Jugendlichen gehen wieder in die Kita oder Schule. Und wenn, dann oft nur für einige Stunden am Tag. Aus Kinder- und Teenagersicht ist es schlimm, von echten Kontakten zu Gleichaltrigen abgeschnitten zu sein. Soziale Entwicklung braucht den Austausch. Expertinnen zeigen, wie Eltern dazu beitragen können, ihren Kindern durch die Corona-Zeit zu helfen. 

Während der Siebtklässler Finn über seinem Matheblatt brütet, fliegt immer wieder die Tür auf und sein kleiner Bruder platzt herein. Oscar ist vier, geht normalerweise in den Kindergarten und ist der Einzige in der Familie, der nicht arbeiten muss. Seine Mutter und sein Vater wechseln sich ab – einer ist außer Haus, einer ist im Homeoffice, damit die Kinder nicht alleine sind. Aber Zeit zum Spielen, Vorlesen oder Basteln hat keiner. Oscar spürt, dass er stört, und wird einfach noch lauter, um Aufmerksamkeit einzufordern. Wenn er sich zum Malen hinsetzt, legt er nicht nur für sich ein Blatt hin, sondern teilt auch für seine besten Kindergartenfreunde aus.

Eltern versuchen sich täglich am Unmöglichen

Szenen wie diese sind für viele Familien während der Corona-Krise nervenaufreibender Alltag. Die vielzitierte Entschleunigung der Krisenzeit bleibt für berufstätige Eltern ein Wunschtraum. Es ist anspruchsvoll genug, Beruf und Homeschooling-Phasen zu vereinbaren. Wenn zu dieser Kombination aber noch die Betreuung eines oder mehrerer nicht schulpflichtiger Kinder hinzukommt, fühlt es sich für viele an, als ob sie sich tagtäglich am Unmöglichen versuchen. Immer noch sind viele Kinder zu Hause oder wechseln in der Schule zwischen Präsenz- und Home-schooling-Phasen ab.

„Das ist im Moment eine sehr stressvolle und neue Herausforderung für viele Familien. Das wird man auch in Zukunft spüren“, ist sich Sabine Silaschi-Fuchs sicher. Die Psychologin ist Erziehungsberaterin bei der Katholischen Jugendfürsorge in Augsburg. „Es macht etwas mit den Kindern, wenn immer alles unter Vorbehalt läuft, man nichts planen kann und wenn die Dinge, die zum Kindsein sonst ganz normal dazugehören – gemeinsam toben, sich messen und spielen – einfach nicht möglich sind.“ Bei den telefonischen Beratungen erlebt sie, dass nur wenige Familien jetzt mehr Zeit haben und diese auch zusammen genießen können. Meist steht die Überforderung im Vordergrund. „Es ist unausweichlich, großzügiger mit sich zu sein. Man muss überall Abstriche machen, schulisch, bei der Kinderbetreuung und beruflich. Anders ist das nicht zu stemmen.“

Großzügiger mit sich sein

„Fehlerfreundlich sein“ nennt das die Familien-Therapeutin Hedi Gies. Sie leitet das Institut Trauma und Pädagogik in der nördlichen Eifel und weiß, wie man sich in schwierigen Situationen stabilisieren und dabei auf seine Ressourcen zurückgreifen kann. Hedi Gies betont, wie wichtig es gerade jetzt ist, eine feste Tagesstruktur einzuhalten und gut für sich zu sorgen. An erster Stelle stehen dabei die Grundbedürfnisse, die bei Eltern und Kindern regelmäßig und gut erfüllt sein sollten, also ausreichend Schlaf, gesunde Ernährung und – ganz wichtig – Bewegung, um sich aus der Erstarrung zu lösen. Eltern sollten dabei auch auf ihre Bedürfnisse schauen und sich – im Rahmen der Möglichkeiten – Pausen erlauben. Und wenn es nur sieben Minuten für eine Tasse Kaffee zwischendurch oder ein Telefongespräch mit der Freundin sind.

In schwierigen Situationen rät sie, bewusst in die Gegenbewegung zu gehen: „Wenn man das Gefühl hat, dass gleich alles zusammenbricht, erst mal einen tiefen Atemzug nehmen und sich mit Sauerstoff versorgen. Das wirkt sich sofort auf den Blutdruck aus.“ Ein Aufkleber am Spiegel oder auf der Kaffeemaschine kann daran erinnern, bewusst tief durchzuatmen und kleine Körperübungen in den Alltag einzubauen. Denn wenn es Eltern gelingt, stabil durch diese Zeit zu gehen, ist die wichtigste Grundvoraussetzung geschaffen, dass dies auch den Kindern gelingen kann. An sich selber zu denken, ist also auch im Sinne der Familie Pflicht und keine Kür. „Paare sollten trotz der vielen Aufgaben auch darüber sprechen, wie es ihnen emotional geht und wie sie sich auf dieser Ebene unterstützen können. Es ist wichtig, nicht nur zusammen die To-do-Listen abzuhaken und den Alltag zu organisieren“, rät die Therapeutin. Die Orientierung im Hier und Jetzt hilft dabei, Zukunftsängste im Griff zu behalten. „Das Fokussieren auf den Moment ermöglicht es, den großen Berg in kleine Hügel zu verwandeln, denen man sich eher gewachsen fühlt.“

Worte für die Gefühle finden

Dass Kinder in dieser Zeit in alte Verarbeitungsstrategien zurückfallen und beispielsweise jede Nacht wieder ins Bett der Eltern krabbeln, obwohl das schon lange der Vergangenheit angehörte, findet Hedi Gies nur zu verständlich. „Corona erschüttert auf einer sehr diffusen Ebene. Es fühlt sich ja zunächst mal gut an, mehr Zeit zu Hause und mit den Eltern zu verbringen. Aber trotzdem ist es nicht wie Urlaub. Die ganze Welt britzelt, und die Erwachsenen haben Sorgen, müssen mehr arbeiten oder haben Angst um ihre Arbeitsstelle. Das spüren Kinder ja. Man sollte Worte dafür finden, wie sich das jetzt anfühlt, und dem Kind sagen: ‚Deshalb ist es wohl wichtig für dich, dass du jetzt zu uns ins Bett kommst. Das darfst du jetzt auch. Dann bist du bei uns und wieder ganz sicher.‘ Da muss man einfach wieder drei Schritte zurückgehen, ohne Angst zu haben, dass es nun für immer so weitergeht.“

Sich bewusst machen: Wir haben uns.

Gies arbeitet außerdem mit dem Konzept des sicheren Ortes, das zusätzlich Stabilität geben kann. „In Familien, in denen Kinder sicher gebunden sind, gibt es mit dem Zuhause und dem Kinderzimmer ja einen faktisch sicheren Ort. Das können wir uns bewusstmachen. Zusätzlich können wir aber auch einen inneren sicheren Ort haben. Diese Sicherheit kann man über Ressourcenorientierung herstellen. Neben dem, was unsicher ist, schauen, was ist denn alles gut? Man kann ein Familien-Freudetagebuch anfangen und schauen, was schön war an diesem Tag – vielleicht auch in der Natur –, was gelungen ist und Freude gemacht hat. Damit kann man dann bewusst einschlafen gehen.“

Rückzugsorte finden

Gemeinsame Projekte stärken den Familienzusammenhalt und tun gut, ist auch die Erfahrung von Erziehungsberaterin Sabine Silaschi-Fuchs: „Ein Vogelhaus bauen, ein Zimmer umräumen. Kinder haben da sehr kreative Ideen. Das vermittelt ein Wir-Gefühl, das beiden Seiten guttut. Es macht spürbar: Wir haben uns.“ Mehr zusammen zu sein – oft auf engem Raum – bedeutet allerdings auch mehr Reibungsfläche. „Ich erlebe, dass Familien, die einen Garten haben, entspannter sind, weil sie sich leichter aus dem Weg gehen können. Aber man kann auch in der Wohnung versuchen, Rückzugsorte zu schaffen. Kinder können sich ein Zelt oder eine Höhle bauen. Sogar ein Kopfhörer kann helfen zu signalisieren, dass man gerade für sich sein möchte“, erklärt die Psychologin. Manche Familien begleitet sie in der Krise mehrmals wöchentlich telefonisch. „Es gibt Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen. Wir haben die Zeiten sogar ausgedehnt, sodass wir nun auch samstags zu erreichen sind.“

Schule zuhause kostet Kraft

Das Lernen zu Hause lässt viele Eltern zum Hörer greifen. „Man muss sich ja an Homeschooling-Tagen nicht akribisch an die Schulzeiten halten, aber sollte in Absprache mit den Kindern unbedingt die Lernzeiten festlegen. Das nimmt viel Stress raus.“ Wenn Teenager ihr Arbeitspensum nicht für verbindlich halten, rät sie zu Gelassenheit. „Ich würde versuchen, in einem ruhigen Moment ins Gespräch zu kommen, was man verändern könnte, damit es besser läuft. Aber ich würde nicht zu viel Druck machen, denn Druck haben wir im Moment alle ohnehin genug. Ich sage den Eltern, man wird von schulischer Seite damit umgehen müssen, dass alle Kinder auf einem unterschiedlichen Stand sind. Man darf sich auch bewusst machen: Im schlimmsten Fall findet das Kind im nächsten Schuljahr den Anschluss nicht und muss wiederholen. Manchmal läuft es besser, wenn Eltern sich damit auseinandersetzen und ein Stück loslassen.“

Teenager mit Lagerkoller

Dass die Corona-Zeit Teenager besonders aus der Bahn wirft, erleben viele Eltern. „Neben den Senioren sind es wirklich besonders die Teenager, die jetzt eine richtig schwierige Zeit erleben“, erklärt Hedi Gies vom Institut Trauma und Pädagogik. Statt Chillen im Freibad dauernd zu Hause mit Eltern und Geschwistern, statt Auspowern im Sportverein noch länger Computerspielen, statt unkomplizierter Kontakte im Schulhof jedes Gespräch organisieren müssen, statt wachsendem altersentsprechenden Freiraum ein Zurückgeworfensein auf die Familie. Dass das für Trübsal und schlechte Laune sorgt, ist nicht verwunderlich. Der Entwicklungsauftrag für dieses Alter lautet nun mal, sich abzugrenzen. „Ich erlebe zwei Gruppen: Die eine Gruppe Teenager zieht sich noch stärker zurück und ist für die Familie kaum zu erreichen. Die andere Gruppe ist kamikazemäßig unterwegs, und man kann nur hoffen, dass sie einigermaßen Vernunft walten lassen, wenn sie außer Haus gehen.“

Dass der Medienkonsum bei Jugendlichen während der Corona-Krise deutlich in die Höhe schnellt, findet die Psychologin Sabine Silaschi-Fuchs nachvollziehbar und rät Eltern, lieber ein Auge mehr zuzudrücken. „Medien sind die kostbare Möglichkeit, die Teenagern momentan bleibt, um mit ihrer Welt in Kontakt zu sein. Strenge Verbote sind da eher kontraproduktiv, weil ihnen das Chatten oder die Videospiele mit Freunden über das Alleinsein hinweghelfen.“

Kinder brauchen Sozialkontakte

Egal ob große oder kleine Kinder: Alles, worauf sich diese gefreut hatten, sei es die Erstkommunion, der Vorschulkinderausflug, die Geburtstagsfeier, das Hüttenwochenende mit der Schulklasse, das Wochenende bei den Großeltern, das Sommerkonzert oder der Strandurlaub mit der Familie, fiel oder fällt flach. Und vieles davon kann man nicht nachholen. „Das macht traurig, und das darf man den Kindern zugestehen“, sagt Sabine Silaschi-Fuchs. Sorgen macht sich die Beraterin der Katholischen Jugendfürsorge, dass soziales Lernen auf der Strecke bleibt. „Ich verstehe, dass sich Familien im Stich gelassen fühlen. Wir haben als Gesellschaft beschlossen, diesen Weg zu gehen, um die Schwachen zu schützen. Das finde ich großartig. Aber man darf nicht übersehen, dass auf der anderen Seite mit den Kindern auch die Schutzbedürftigen unserer Gesellschaft stehen. Für Kinder ist das ein wahnsinnig langer Zeitraum in ihrer Entwicklung. Man muss es dringend allen Kindern wieder ermöglichen, regelmäßig ihre Schulen oder Einrichtungen zu besuchen.“

Autorin: Claudia Klement-Rückel
aus: KDFB engagiert 6/2020

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