Menü

„Stress gehört zum Leben“

Karin Krudup Foto: privat

02.03.2018

Karin Krudup ist seit 16 Jahren Lehrerin für MBSR – Stressreduktion durch Achtsamkeit und hat seither viele Menschen dabei begleitet. Sie ist stellvertretende Leiterin des Instituts für Achtsamkeit, einem großen Anbieter von MBSR-Weiterbildungen.
KDFB Engagiert: Ist ein Leben ohne Stress vorstellbar? 
Krudup: Nein, Stress gehört zum Leben. Er löst eine gesunde und automati­sierte körperliche Reaktion aus, die dazu beigetragen hat, dass der Mensch überleben konnte. Allerdings: Was unsere Vorfahren in einem ganzen Leben an Stress erlebten, er­leben wir in einem Monat. Und so leben wir immer auf einem erhöhten Stressniveau. Das genau ist das Problem: Wenn sich unser Körper nicht mehr erholen und davon ausruhen kann, dann kann Stress krank machen.
KDFB Engagiert: Den Wunsch nach Pausen hat fast jeder. Trotzdem fällt es vielen sehr schwer, sich zu entspannen. Das geht nicht auf Knopfdruck. 
Krudup: Es ist sinnlos, einem angespannten Menschen zu sagen: Entspann dich mal! Der kann das nicht, sonst würde er es ja tun. Und er wird auf die Aufforderung nur mit noch mehr Anspannung reagieren, weil da wieder etwas ist, was er nicht schafft und nicht hinbekommt. Das ist ähnlich wie beim Einschlafen, wenn man weiß: ,Ich habe einen anstrengenden Tag vor mir. Ich muss jetzt schlafen, ich muss einfach! Sonst halte ich morgen nicht durch!’ Und was passiert typischerweise? Man kann nicht einschlafen, wälzt sich hin und her, wird immer unruhiger! Und die Uhr tickt weiter.
Achtsamkeit geht anders ran: Nicht mit dem Blick auf morgen und was da vielleicht Schlimmes passieren könnte, sondern mit dem Augenmerk auf das, was gerade ist. Ein achtsamer Blick würde also sagen: ,Aha, es ist also Anspannung da. Was ist das genau? Wie fühlt es sich an?’ Wenn ich diesen Blick darauf richte, bin ich nicht mehr in der Ab­wehr, dass ich die Anspannung unbedingt loswerden möchte, was nur selten klappt, sondern im freundlichen Interesse für mich selbst. Ich wende mich mir zu. Ich merke: Es ziept im Schulterbereich. Es zwickt im Magen. Wenn ich in den jetzigen Moment eintauche, dann hat mein Kopf keine Kapazitäten mehr frei, um darüber nachzudenken, was ich alles erledigen muss und worüber ich mich sorge. Entspannung geschieht in diesem Moment.
KDFB Engagiert: Das klingt paradox: mich der Anspannung zuwenden, wenn ich entspannen will… 
Krudup: Das ist auch paradox. So wie es auf den ersten Blick paradox er­scheint, dass viele Menschen in Entspannungsübungen unruhig werden, manche auch traurig, andere aggressiv. Wenn ich aber Stress-bewältigung lernen will, dann bleibt mir nichts andere üb­rig, als mich mit den Themen zu beschäftigen, die mich stressen, und sie erst mal wahrzunehmen. Nur, wenn ich weiß, was es ist, kann ich es langfristig verändern. Niemand schaut aber gerne auf schwierige Themen, die wollen wir alle gerne vermeiden. Mit der Achtsamkeit eröffnet man sozusagen den Raum, um auf Unangenehmes freundlich zu schauen und es auf diese Weise zu erforschen.

Interview: Susanne Zehetbauer

aus: KDFB Engagiert – Die Christliche Frau 3/2018

Der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) ist ein unabhängiger Frauenverband mit bundesweit 145.000 Mitgliedern. Seit der Gründung 1903 setzt er sich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen in Kirche, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ein.
© 2024 | KDFB engagiert