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Ostberlin – Flucht vor der Stasi

Dietlind Kosolowski (links) mit ihrer Schulfreundin Hiltrud Lennert, Foto: privat

29.06.2018

Der tägliche Krug mit Ziegenmilch, den der Nachbar jeden Morgen auf einen Pfosten im Garten stellt – das ist eine der ersten Erinnerungen von Dietlind Kosolowski, wenn sie an ihr Elternhaus in Ostberlin zurückdenkt.

Doch die Freude über den hilfsbereiten Nachbarn wird in der Erinnerung schnell von Traurigkeit getrübt, wenn sie an den letzten Tag im Haus in der Gorkistraße zurückdenkt: „Meine Mutter hatte Angst, dass die Staatssicherheit sie holen würde, weil sie immer ihre Meinung frei geäußert hatte. Ich durfte nur ein kleines Köfferchen packen. Dann flohen wir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion 1958 nach West-Berlin. An diesem Tag endete meine Kindheit.“ Dietlind Kosolowski ist elf Jahre alt.

Klassentreffen nach 50 Jahren

In ihrer Erinnerung sieht alles noch aus wie früher, obwohl die 71-Jährige weiß, dass es in Wirklichkeit nicht mehr so ist. Vor ein paar Jahren fasst sie Mut und besucht mit ihrer Freundin, der KDFB-Frau Hiltrud Lennert aus Heppenheim, und einer Schulkameradin ihr Elternhaus. Anlass ist das Klassentreffen ihrer Mitschüler an der Ostberliner Grundschule nach 50 Jahren.

Unfreundliche Begegnung

Die Reise in die Vergangenheit wird allerdings von einer unfreundlichen Begegnung überschattet. „Als wir am Zaun meines Elternhauses standen, kam eine junge Frau aus dem Haus. Sie war noch recht nett. Ich erzählte ihr, dass das vor vielen Jahren mein Elternhaus gewesen sei. Aber als ihr Vater herauskam, schlug die Stimmung um“, erzählt Dietlind Kosolowski. „Er meinte, er hätte zu tun, drehte sich um und ging einfach weg. Vermutlich befürchtete er, ich wolle noch irgendwelche Ansprüche stellen.“

Die ehemalige Beamtin des Berliner Senats ist perplex. „Das hatte ich nicht erwartet. Ich wollte doch nur meinen Kindheitsort noch einmal sehen. Das ging ja bis zum Mauerfall 1989 gar nicht.“

Aufwühlend: Der Ausflug in die Vergangenheit

Die Einzelheiten der Flucht kommen Dietlind Kosolowski wieder in den Sinn: „Damals stand die Mauer noch nicht. Die wurde erst 1961 gebaut. Wir sind frühmorgens mit der S-Bahn nach Westberlin gefahren. Eine Kontrolle hätte unsere Flucht gefährdet. Wären wir befragt worden, hätten wir vorgetäuscht, Verwandte im Westteil zu besuchen. Deshalb hatten wir auch nur ganz wenig Gepäck dabei, um glaubwürdig zu wirken. Meine Mutter war fest davon überzeugt, dass wir dieses Risiko auf uns nehmen müssten.“

Die Flucht aus Ostberlin endet im Notaufnahmelager Marienfelde, das heute eine Erinnerungsstätte mit einem Museum zur Flucht im geteilten Deutschland beherbegt. 

Ihre Jugend verbringt Dietlind Kosolowski in Stuttgart. Mit ihrem Mann, einem Arzt, zieht sie später zurück nach Berlin. Das Elternhaus zu besuchen, kommt damals nicht in Frage. Sie muss bis zum Mauerfall und auf eine günstige Gelegenheit warten, um den Ort ihrer Kindheitserinnerungen wiederzusehen.

Autorin: Karin Schott
aus: KDFB Engagiert 7/2018

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